Die Menschen, behauptet Beat Fehlmann, hätten nach bald zwei Jahren Pandemie „eine große Sehnsucht nach Kultur“. Das ist keine neue These: Landauf, landab tragen Intendanten, Politiker und Feuilletonisten sie mit einer Inbrunst zu Markte, die immer öfter verzweifelt klingt. Angesicht des tatsächlich zu verzeichnenden Publikumszuspruchs nämlich drängt sich die Frage auf, ob das mit der „großen Sehnsucht“ überhaupt stimmt.
Bei der Südwestdeutschen Philharmonie in Konstanz etwa ist die Abonnentenzahl nach aktuellem Stand von deutlich mehr als 3000 vor Corona auf nunmehr 2588 eingebrochen. In die Konzerte traute sich zuletzt gar nur noch ein Drittel des Publikums. Auch in anderen Kulturbetrieben Südbadens müssen Intendanten und Geschäftsführer konstatieren: Unter großer Sehnsucht hätten sie sich etwas anderes vorgestellt.
Es gibt zurzeit eigentlich nur eine Person, die von Publikumsbegierden sprechen kann, ohne rot zu werden. Beat Fehlmann, bis 2018 Intendant der Südwestdeutschen Philharmonie und seitdem in gleicher Funktion an der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz in Ludwigshafen tätig, ist ein fast unglaubliches Kunststück geglückt: Mitten in der Corona-Pandemie hat er die Abonnentenzahl seines Orchesters nicht nur gehalten. Er hat sie gesteigert und zwar um sage und schreibe 46 Prozent. Ein historischer Rekordwert. Welcher Trick steckt dahinter?

„Den Trick kenne ich auch nicht so genau“, sagt Beat Fehlmann am Telefon und lacht. Eine Spur von Euphorie schwingt in seiner Stimme mit. „Ich kann nur mit ein paar Vermutungen dienen!“
Und dann erzählt er: davon, wie zu Beginn der Coronakrise alle davon sprachen, wie wichtig es jetzt sei, „soziale Distanz“ zu üben, einander auf Abstand zu gehen. „Ich sagte den Musikern, dass die eigentliche Krise uns erst in zwei Jahren erreichen wird, wenn angesichts leerer Kassen die Debatten um notwendige Kürzungen in der Kultur losgehen. Und ich überzeugte sie davon, dass wir uns deshalb jetzt umso mehr um Nähe bemühen müssen.“ Niemand soll später behaupten können, bei der Staatsphilharmonie habe man in der Krise nur tatenlos abgewartet statt selbst aktiv zu werden.
Programmvorschau auf dem Wochenmarkt
Und so begannen Musiker, in Briefen an die Abonnenten persönliche Hörtipps zu formulieren, inklusive Zugang zu einer digitalen Streamingplattform. Hier musizierte eine Kammermusikformation vor dem Altenheim, dort gab es ein „Sofa-Konzert für vier Hörer“. Und statt eines Spielzeithefts, dessen Inhalt in der Pandemie ohnehin bald überholt gewesen wäre, tingelten Orchestermitglieder persönlich von einem lokalen Wochenmarkt zum nächsten, gaben mit kurzen Darbietungen einen Vorgeschmack aufs neue Programm. „Es war ein hartes Geschäft“, sagt Fehlmann, „aber jedes Mal kehrten wir mit neuen Kartenbestellungen nach Hause zurück.“

Wie die Rundumversorgung beim Stammpublikum ankam, verrät die geradezu absurd niedrige Zahl an Abokündigungen: Ganze zehn seien es gewesen. Stets waren Todesfälle oder Wohnortswechsel ausschlaggebend, wegen Corona sprang kein einziger Abonnent ab.
Im Gegenteil. Fehlmann brachte seine Projekte geschickt in die Medien, erklärte dem Fernsehpublikum der Landesschau seine „musikalische Notfall-Apotheke“ oder auf SWR-Aktuell das interkulturelle Crossover-Projekt. Binnen kurzem galt die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz als Musterbeispiel für Innovation und Eigeninitiative im Kulturbetrieb. Es wurde schick, sich als Unterstützer dieser engagierten Künstler zu präsentieren.
„Die Menschen spüren die Wertschätzung“
Frank Pommer, Feuilletonchef der in Ludwigshafen erscheinenden Tageszeitung „Rheinpfalz“, sagt: „Das Orchester hat während der Pandemie unter Fehlmann den Menschen in der Region sehr eindrucksvoll vermittelt, wie wichtig sie der Staatsphilharmonie sind. Und zwar jede einzelne Konzertbesucherin, jeder einzelne Konzertbesucher. Diese Wertschätzung spüren die Menschen, und sie wirkt sich dann eben auch auf die Abo-Zahlen aus.“
So einfach ist das also?
Wenn mitten in einer Pandemie ein so gewaltiger Abonnentenzuwachs gelingt, muss es noch einen zweiten Teil der Wahrheit geben. Im vorliegenden Fall liegt er in einer Startposition, die einerseits denkbar schlecht war, andererseits gerade deshalb für einen kompetenten Intendanten besonders dankbar.
Als Fehlmann nach Ludwigshafen wechselte, befand sich die Staatsphilharmonie in einer tiefen Krise. Zwischen seinem Voränger, Michael Kaufmann, und dem Orchester hatte es so gewaltig gekracht, dass eine Mediation eingesetzt werden musste. Das Konfliktfeld reichte von empfundener Überlastung der Musiker über die Vermarktungsstrategie des Klangkörpers im nationalen wie internationalen Konzertbetrieb bis zu mangelnder Rückendeckung für die Intendanz aus der Politik. Die Mediation blieb weitgehend erfolglos. Alle Hoffnungen ruhten auf dem neuen aus Konstanz. Es konnte eigentlich nur besser werden.
Und doch, dass Musiker, die gestern noch über Zumutungen aus dem Intendantenbüro klagten, heute schon auf Wochenmärkten neue Formate testen, ist alles andere als selbstverständlich. Fehlmann sei eben „ein Menschenfänger im ausschließlich positiven Sinne des Wortes“, sagt Pommer: „Mit seiner verbindlichen, ausgleichenden, aber auch motivierenden Art wirkt er zusammen mit Chefdirigent Michael Francis in das Orchester hinein.“
„Auch ein hässlicher Ort kann Heimat sein“
Es gibt eine nur scheinbar banale Geschichte, die erklärt, auf welche Details es mitunter ankommt. Sie handelt von der Wahl seines Wohnortes. Das Stadtbild Ludwigshafens ist derart schlecht beleumundet, dass die Stadt unter dem Titel „Germany‘s Ugliest City Tours“ sogar Führungen zu besonders abstoßenden Orten anbietet. Der zuständige Tourguide, Helmut van der Buchholz, spricht von „Katastrophentourismus“. Aber: „Auch ein hässlicher Ort kann Heimat sein.“
Wer Geld hat, zieht meist trotzdem lieber in eines der gehobeneren Wohnviertel außerhalb des Stadtkerns. Nicht so der Neue aus Konstanz: Mitten im Zentrum hat er sich eine Wohnung genommen. Und das nach Jahren am wunderschönen Bodensee! Dass sich jemand derart konsequent auf ihre Metropole einlässt, nötigte von Beginn an vielen in der Stadt Respekt ab.
„Ja, das stimmt“, sagt Fehlmann, wenn man ihn auf die mögliche Signalwirkung solch vermeintlich privater Entscheidungen anspricht. Es sei in der Tat „extrem wichtig“, sich einer Stadt von Beginn an ohne Wenn und Aber zuzuwenden. Überhaupt müssten sich Intendant und Musiker darüber im Klaren sein: „Wir sind als Orchester nicht nur ein Kompetenzzentrum für Brahms und Bruckner, sondern für die Gesellschaft insgesamt.“
Und dann fällt ihm noch ein: Das mit den 46 Prozent Abonnentenzuwachs, das stimme so natürlich nicht mehr ganz. „Es sind inzwischen 51 Prozent.“