So richtig kann das bis heute keiner erklären: Die Höri im südlichen Kreis Konstanz hat schon immer Kulturschaffende angelockt und tut es bis heute. Vom viel zitierten Hermann Hesse über den gerne gesehenen Otto Dix bis zu malenden Kolonien – der südlichste Zipfel des Bodensee zieht Künstler aller Sparten magisch an. Die meisten bleiben dann mit Gefährtinnen und Kindern dort wohnen. Außer dem verschrobenen Hesse, der nach einigen Jahren zwischen Schilf und Schiener Berg die Nase voll hatte und zurück in die Stadt zog.

Ute Kleeberg und Uwe Stoffel werden mit Sicherheit nicht zurück in die Stadt ziehen. Das Verleger-Ehepaar hat in Iznang auf der Vorderen Höri Wurzeln geschlagen. Dort sitzt auch ihr gemeinsames Unternehmen: die Edition See-Igel – ein Verlag, der sich auf Sprach-CD spezialisiert hat, die von prominenten Schauspielern eingelesen wird.

Wie bringt man Kinder zur Klassik?

Wir treffen uns im Wohnhaus der beiden. Stoffel stammt aus Iznang, das unscheinbare Haus in der nähe des Sees dort war schon immer Zuflucht für seine Familie. Heute ist es Hauptwohnsitz der beiden, an den auch die drei Kinder mit den Enkeln immer wieder gerne zurückkehren. Das Ehepaar ist hiesig, sie vermissen die Events der Großstadt mit ihren schnell wechselnden Moden nicht. Ruhig sitzen sie am Esszimmertisch und erklären ihr Lebensprojekt – den See-Igel.

Hier laufen die Fäden zusammen: Ute Kleeberg betreut von ihrem Büro in Iznang aus die Geschäfte der Edition See-Igel.
Hier laufen die Fäden zusammen: Ute Kleeberg betreut von ihrem Büro in Iznang aus die Geschäfte der Edition See-Igel. | Bild: Fricker, Ulrich

Zwei Dinge kamen bei der Gründung zusammen. Stoffel, heute 66, ist Berufsmusiker. Als Klarinettist saß er viele Jahre in der Württembergischen Philharmonie in Reutlingen. Früh schon trat er selbst als Veranstalter auf und arrangierte Programme speziell für Kinder. Sie sollten spielerisch an die Musik zwischen Bach und Strawinski herangeführt werden. Seine Frau Ute ist von Haus gelernte Sonderschullehrerin.

Als ihre eigenen Sprösslinge noch klein waren, fragten sich beide: Wie kann man Kinder mit klassischer Musik vertraut machen? Die Freude an Musik mag angeboren sein, doch bedarf sie der Anleitung. So entstand die Idee, selbst etwas zu tun. See-Igel spielt CD ein, in denen Märchen und Kurzgeschichten gelesen werden. Zwischen den Kapiteln werden immer wieder klassische Werke gespielt, die eigens für See-Igel aufgenommen wurden. So fing es 1995 an.

Es soll keine Schulstunde sein

Der Erfolg stellte sich schnell ein, auch dank der liebevollen Gestaltung von Booklet und Titelbild. Der Radolfzeller Grafiker Christian Dierks schuf bisher sämtliche Illustrationen – den verträumten Igel im Schwimmring aquarelliert er ebenso wie Schneemänner auf dem Eis. Die sich wiederholende Handschrift schafft Kontinuität, und das scheinen kulturfreundliche Kunden zu schätzen. Die Produkte aus Iznang haben einen hohen Wiedererkennungswert erworben. Und: Wort und Ton sind sauber dokumentiert. Man weiß, was man hat und hört.

Uwe Stoffel ist für die musikalische Seite von See-Igel verantwortlich. Der Berufsmusiker spielt Klarinette, an vielen Einspielungen ist ...
Uwe Stoffel ist für die musikalische Seite von See-Igel verantwortlich. Der Berufsmusiker spielt Klarinette, an vielen Einspielungen ist er beteiligt. | Bild: Fricker, Ulrich

Es ist eine kindliche Welt, die hier gezeigt wird. „Diese Musik und die Texte sollen berühren“, sagt Ute Kleeberg. Klassische Musik soll Kinder mitnehmen und mitreißen; es darf aber nicht als verkappte Schulstunde erscheinen. „Sie sollen nicht abgefragt werden“, sagt Ute Kleeberg. Dieses Konzept hat sich unter Kennern und Liebhabern schnell etabliert. Der deutschsprachige Markt wurde darauf aufmerksam und pflegte bisher seltene Wörter wie „Höri“ und „Iznang“ in de Rechtschreibprogramme ein. Mit dem See-Igel war ab sofort zu rechnen.

Die CD löste die Kassette im Kinderzimmer ab

Ab wann ist klassische Musik für Kinder sinnvoll? Darüber haben sich die beiden spätestens mit der Geburt der eigenen Kinder Gedanken gemacht. „Ab sechs oder sieben Jahren ist es sinnvoll“, sagt Uwe Stoffel. Wichtig sei immer, dass dies spielerisch geschehe. „Wir wollen Barrieren abräumen“, sagt er. Eine Barriere bildet zum Beispiel die Vermutung, dass Klassik irgendwie überkandidelt oder überholt sei.

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„Wir hatten auch harte Zeiten“, berichtet sie dem SÜDKURIER. Der Start stellte sie vor eine Herausforderung, schließlich ist der See-Igel nicht der einzige Anbieter auf dem Markt, der klassische Musik mit Texten zusammenbringt. Der Erfolg stellte sich später in den Nullerjahren ein. Vor allem Eltern aus dem bildungsbürgerlichen Bereich erwarben CD von der Höri. Die Tonträger traten die Nachfolge der abgenudelten Kassetten an, die sich bisher in Kinderzimmern stapelten. Die Compact Disc mit dem lustigen Igel drauf verband technische Qualität mit einem lockeren literarisch-tonalen Menü. Das haute rein. Der Igel kam auf die Füße und lief der Konkurrenz davon.

„Streaming ist reiner Kannibalismus“, sagt sie

Von Anfang an arbeiteten die beiden mit guten Stimmen. Bekannte Schauspieler geben sich im Berliner Aufnahmestudio die Klinke in die Hand. Ulrich Noethen liest, ebenso Katharina Schüttler, Eva Mattes, Christian Brückner und Barbara Auer – alles Stimmen, die man mit einem Gesicht aus dem Fernsehen verbindet. Sie stellen diesen vertraut klingenden Ton her; es war nie ein Problem, sie für eine Produktion zu gewinnen, gingen gastieren sie in der hochkulturelle Sparte.

Der Radolfzeller Grafiker Christian Dierks schuf bisher sämtliche Illustrationen der „Seeigel“-Produktionen.
Der Radolfzeller Grafiker Christian Dierks schuf bisher sämtliche Illustrationen der „Seeigel“-Produktionen. | Bild: Edition Seeigel

Damals, bei der Gründung der Edition im Jahr 1995, hatte auch der Zeitpunkt gestimmt. Die CD stand auf dem Zenit. Sie hatte soeben die gute alte sperrige LP verdrängt und bot unglaubliche technische Qualität und Hörfreuden. Mit dem neuen Standard an authentischer Wiedergabe und der gefühlten Nähe des gesprochenen Wortes eroberte See-Igel damals die Kinderzimmer.

Doch längst ist der Compact Disc eine harte Konkurrenz erwachsen. Digitale Streamingdienste sind dabei, die kleine Scheibe zu verdrängen. „Die CD hatte ihren Höhenflug“, sagt Kleeberg klar – mit Akzent auf „hatte“. Die guten Umsätze, die sie noch vor 10 und 15 Jahre in ihren Bücher vermerkte, sind Geschichte. „Die CD läuft eindeutig aus. Zurzeit geht alles Richtung Download.“ An dieser Entwicklung will und muss sie sich nicht mehr beteiligen. „Streaming ist reiner Kannibalismus“, lautet ihre Analyse, „die Großen können sich halten, die kleinen schaffen es nicht.“

Sie lassen sich nicht kaufen

Die Zukunft der Edition See-Igel ist also ein Roman mit offenem Ausgang. Ein bis zwei Produktionen bringen die beiden jährlich heraus, und dabei soll es auch bleiben. Eine Handvoll an Übernahmeangeboten flatterten schon ins Haus – alle finanziell gut unterfüttert und von großen Verlagen. Die Angebote lehnten sie allesamt ab. „Das Konzept liegt bei mir, und so soll es auch bleiben“, sagt sie.

Er kann weiterhin die Musikstücke auswählen und sich als Klarinettist an neuen Einspielungen beteiligen. Und sie kann entscheiden, welcher Stoff aufgezeichnet wird. „Niemand hat uns reingeredet, was für ein Privileg“, sagt sie, noch immer staunend. Die meisten Märchen hat sie zum Beispiel neu erzählt und geformt – dieses Recht würde ihr dann genommen. Fremde Lektoren und Buchhalter würden dem See-Igel auf den stachligen Pelz rücken. Er fasst es so zusammen: „Wir haben oft gegen den Zeitgeist produziert.“ Bisher ist es immer gutgegangen.