Tausend Migranten pro Woche sollen es sein, die durch die Schweiz weiter nach Deutschland reisen. Das zumindest berichtete die Neue Züricher Zeitung (NZZ) – und löste damit scharfe Kritik aus Berlin an der Schweiz aus.
Zuvor hatte die SRF Rundschau dokumentiert, wie Flüchtlinge am Bahnhof Buchs nahe der österreichischen Grenze, von Mitarbeitern der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) zu einem Zug begleitet werden. Dort ist ein extra Abteil für sie reserviert. Ziel: via Zürich nach Basel, ganz nahe an Deutschland.
Zudem wurde eine interne E-Mail publik, in der ein lokaler Teamleiter des SBB seine Mitarbeiter darauf hinwies. „Afghanische Flüchtlinge sind harmlos und lassen sich sehr gut führen. Gebt konkrete und konsequente Anweisungen. Sie folgen euch“, wie die NZZ das Schriftstück zitierte. Der Vorwurf: Die SBB betreibe damit aktive Migrationspolitik, in dem sie den Transit durch die Schweiz erleichtere – in Richtung der Grenze.
Schweizer Behörden dementieren Vorwürfe
Auf Nachfrage des SÜDKURIER verweist das Staatssekretariat für Migration (SEM) zunächst nur auf eine Stellungnahme zum Bericht der NZZ, die „tatsachenwidrig“ berichtet habe.
Eine Weisung seitens der Behörden, Flüchtlinge gezielt in Richtung Deutschland weiterzubringen, gibt es demnach nicht: „Weder das Staatssekretariat für Migration (SEM) noch das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) erteilen der SBB Anweisungen, wie sie den Transport von Passagieren zu organisieren haben.“ Man betont: „Die Schweiz geht aktiv gegen illegale Migration vor.“
Bahn verweist auf Transportpflicht
Die SBB teilt telefonisch mit, dass es richtig sei, dass zusätzliche Waggons eingesetzt werden. In einer Stellungnahme begründet die SBB die Maßnahme mit einer deutlichen Zunahme von Reisenden auf den Strecken von Buchs nach Zürich und von dort nach Basel.
Da zuletzt vermehrt Migranten in Buchs angekommen seien, habe man einen Waggon reserviert, damit „Familien zusammen reisen können“. Die Situation sei auch für SBB-Mitarbeiter anspruchsvoll. In solchen Fällen gebe es interne Empfehlungen: „Diese waren zum Teil unglücklich formuliert, das war ein Fehler.“ Die Formulierung der internen Mail hatte in der Schweiz Empörung ausgelöst.
Keine „rechtliche Handhabe“
Seitens der Behörden sieht man ebenso wenig ein Fehlverhalten. Wer in der Schweiz einen Asylantrag stelle, bekomme einen Platz in einem der Bundesasylzentren zugewiesen, erklärt das SEM. Wer allerdings „kein Asylgesuch stellt, bleibt in der Zuständigkeit des Einreise-Kantons“.
Zudem habe die Kantonspolizei „keine rechtliche Handhabe, illegal eingereiste Personen“ festzuhalten. Auch Asylsuchende, die in einem der Bundesasylzentren untergebracht sind, „sind dort nicht eingesperrt“, ergänzt ein Sprecher auf Nachfrage des SÜDKURIER.
Die Frist für die Einleitung des Dublin-Verfahrens betrage zwei Monate, diese werde von der Schweiz eingehalten. Mit dem Verfahren wird innerhalb des Schengenraums und der EU geprüft, ob bereits in einem anderen Land ein Asylverfahren eingeleitet wurde. „Gegen bereits wieder abgereiste Personen kann kein Dublin-Verfahren durchgeführt werden“, heißt es in der Stellungnahme allerdings ergänzend.
Die St. Galler Polizei hatte der NZZ gesagt: „Wir erlauben formell die Weiterreise“, wie Sprecher Florian Schneider zitiert wird. Auf Nachfrage des SÜDKURIER bei der Polizei reagiert die Behörde zunächst nicht.
Bundespolizei registriert Anstieg
Auf deutscher Seite registriert die Bundespolizei indes eine Zunahme illegaler Migration: Das gelte seit dem Sommer bei Einreisen „vor allem von syrischen Staatsangehörigen, auch mit dem Verkehrsmittel Bahn“, wie die Bundespolizei in Stuttgart dem SÜDKURIER auf Anfrage mitteilt. Auch an den Grenzen zur Schweiz und Österreich steige die Zahl der festgestellten unerlaubten Einreisen. Genaue Zahlen mit Blick auf die Schweizer Grenze müssten erst noch ausgewertet werden, so Sprecherin Caroline Bartelt.

Was Abgeordnete aus der Region sagen
Im Bundestag brodelt es ob der Nachrichten aus der Schweiz bereits. Thorsten Frei, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, sagt dem SÜDKURIER: „Diese Praxis ist in keiner Weise akzeptabel. Das wäre ein klarer Verstoß gegen das Dubliner Abkommen. Nach internationalem Recht ist die Schweiz verpflichtet, entweder ein Asylverfahren durchzuführen oder die Migranten zurückzuweisen.“ Sollten sich die Vorwürfe bewahrheiten, müsse Deutschland die Grenzkontrollen verstärken.
Rita Schwarzelühr-Sutter, parlamentarische Staatsekretärin im Bundesinnenministerium, sagt auf Anfrage allerdings, ihr Haus habe keine Erkenntnisse, „dass irreguläre Weiterreisen aus der Schweiz in andere europäische Staaten von schweizerischen Behörden aktiv unterstützt werden.“ Den Hinweisen werde aber nachgegangen, ergänzt die SPD-Bundestagsabgeordnete aus dem Kreis Waldshut.

Schwarzelühr-Sutter verweist darauf, dass Geflüchtete „auch in der Schweiz Züge benutzen“ können, „wie das auch in Deutschland möglich ist“. Sie ergänzt: „Gleichwohl beobachten wir die gestiegenen Zahlen an Migranten an der Grenze zur Schweiz aufmerksam.“
Schengenraum basiert auf Solidarität
Tatsächlich ist die sogenannte Politik des Durchwinkens europarechtlich nicht ganz einfach. Zwar gelten innerhalb des sogenannten Schengenraums, in dem Grenzkontrollen abgeschafft wurden, feste Regeln.
Reist jemand illegal in ein Mitgliedsland ein, beantragt in diesem Moment aber Asyl, muss er nach internationalem Recht zunächst aufgenommen und der Antrag geprüft werden – auch, ob bereits zuvor anderswo ein Antrag gestellt wurde. Wird kein Asyl beantragt, kann das Land den Betroffenen die Einreise verweigern oder sie dorthin zurückschicken, wo sie zuerst in den Schengenraum oder die EU eingereist sind.
Theoretische Vorgaben und praktische Probleme
Da die Schweiz ein Rücknahmeabkommen mit Österreich hat, könnte sie in diesem Fall illegale Migranten, die kein Asyl beantragen, dorthin zurückschicken. Praktisch dauert dieses Verfahren aber mehrere Tage – mit dem Effekt, dass die Betroffenen in dieser Zeit meist illegal weitergereist sind. Gleiches gilt für die Aufnahme im Asylsystem der Schweiz.
In beiden Fällen müsste die Identität dennoch festgestellt und registriert werden. Geschieht beides nicht, „ist das nicht die Idee des Schengenraums“, wie Daniel Thym von der Uni Konstanz erklärt, der dort den Lehrstuhl für Europa- und Völkerrecht innehat. „Das wäre illoyal von der Schweiz“, fügt er hinzu. Der Schengenraum setze auf die Solidarität der Mitgliedstaaten.

Gelangen illegale Migranten von der Schweiz nach Deutschland und stellen hier einen Asylantrag, beginnt das Verfahren von Neuem: Der Antrag muss hierzulande geprüft werden – einfach abweisen an der Grenze ist nicht möglich. Das Problem: Selbst wenn festgestellt wird, dass die Migranten bereits in einem anderen EU-Land erstmals registriert wurden, gestaltet sich die Rückführung in der Praxis schwierig.
Länder wie Italien nehmen nur wenige Migranten zurück, nach Griechenland dürfen Migranten in der Regel wegen der schlechten Versorgung nicht zurückgeschickt werden. Oder aber es liegt keine Erstregistrierung vor, obwohl klar ist, dass der Betroffene über andere EU-Länder beziehungsweise Schengenmitglieder gereist sein muss – wie im Fall der Schweiz. „Wenn die Flüchtlinge einmal hier sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie auch bleiben können“, sagt Thym.
Die Sprecherin der SBB teilt am Folgetag nach Erscheinen des Artikels mit, dass ihre vorherige „Aussage, dass zusätzliche Wagen eingesetzt werden, falsch“ gewesen sei. Es würden lediglich Waggons reserviert.