Sie kommen von Thessaloniki oder aus Athen. Sie landen in Stuttgart oder Zürich. Von dort geht es weiter mit dem Zug oder Reisebus, oft aber auch über private Abholer. Es sind Syrer, Afghanen, Iraker – als Flüchtlinge in Griechenland registriert, einem Land, das immer noch überfordert ist mit der Versorgung und Unterbringung der Hilfesuchenden. Also machen sie sich auf, um ihr Glück anderswo zu finden und beantragen dort erneut Asyl.

Das Phänomen dieser sogenannten Sekundärmigration beobachtet die Bundespolizei seit Jahren. Allerdings sei in den vergangenen Monaten „insbesondere aus Griechenland ein starker Anstieg der illegalen Sekundärmigration auf dem Luftweg“ von dort bereits schutzberechtigter Flüchtlinge festzustellen, erklärt Bartelt.

„Jeanspass“ für Flüchtlinge

Eine Regelung der EU macht es möglich: Flüchtlinge mit Schutzstatus mit einem Reiseausweis oder Aufenthaltstitel innerhalb des Schengenraums dürfen bis zu 90 Tage lang innerhalb eines halben Jahres reisen. Den Nachweis nennen die Beamten wegen seiner blauen Farbe oft „Jeanspass“.

Weil Reisen für Flüchtlinge nicht verboten ist, ist es umso schwieriger, Sekundärmigration nachzuweisen. „Die Personen, oftmals gesamte Familienverbände, reisen unter dem Vorwand einer Besuchs- oder touristischen Reise nach Deutschland ein“, erklärt Caroline Bartelt, Sprecherin der Bundespolizeidirektion Stuttgart.

Aus Bundespolizeikreisen heißt es: „Wir wissen, dass ein Großteil nicht mehr zurückgeht nach Griechenland.“ Zudem wüssten viele, dass Deutschland nicht nach Griechenland abschiebe. Mehr als 11.000 dort anerkannte Flüchtlinge sind seit Ende 2019 bis zu diesem Frühjahr nach Deutschland weitergereist, um erneut um Asyl zu bitten.

Das bestätigt auch die hiesige Bundespolizei: Häufig gehe „bei Antreffen durch die Bundespolizei ein erneutes Schutzersuchen“ einher. Und das müssen die deutschen Behörden verpflichtend prüfen: Der Asylmechanismus ist in Gang gesetzt. Und die Mühlen der Behörden mahlen langsam.

Seit seit Ende März der Sommerflugplan wieder gilt und entsprechend mehr Verbindungen zur Verfügung stünden, habe sich der Effekt noch verstärkt, so eine Sprecherin weiter. Bis zu zehn Flüge am Tag landen allein in Zürich aus Griechenland kommend, wie ein Blick auf den Flugplan zeigt.

Einer der größten Anbieter ist der Billigflieger Aegean. Die wiederholte Anfrage des SÜDKURIER, wie hoch der Anteil der Reisenden mit Flüchtlingspass ist, bleibt unbeantwortet. Vier Wochen lang und bis zur Veröffentlichung dieses Artikels.

Einsatz am Bahnhof

Es ist 12.50 Uhr am Bahnhof Konstanz. Christoph Förster und sein Kollege stehen schon am Gleis, um den Interregio-Zug, der direkt vom Flughafen Zürich einfährt, in Empfang zu nehmen. Dort ist am Vormittag eine Maschine aus Athen gelandet. Das Gleis füllt sich schnell, Förster muss schnell entscheiden, wen er aus dem Verkehr zieht.

Christoph Förster kontrolliert mit einer App der Bundespolizei die Personalien von einer Familie.
Christoph Förster kontrolliert mit einer App der Bundespolizei die Personalien von einer Familie. | Bild: Moll, Mirjam

Die beiden Bundespolizisten sind Teil eines größeren Einsatzes der Bundespolizei an diesem Wochenende im Grenzbereich. Ziel: die „Aufhellung“ der Sekundärmigration. Es ist der Polizeijargon für einen Bereich, in dem man von einer großen Dunkelziffer ausgeht. Wie viele Kräfte im Einsatz sind, will Daniela Schmidt, Bundespolizistin und Sprecherin der Bundespolizeiinspektion Konstanz, nicht sagen.

Lagebild: Familie mit Gepäck

Förster spricht eine Familie an, die durch großes Gepäck auffällt. Ein Fehlalarm in diesem Fall. Es sind Inder mit Aufenthaltstitel in der Schweiz. Der 41-jährige Gruppenleiter bei der Bundespolizei erklärt: „Wir arbeiten nach Lagebildern.“

Ein junger Mann wird am Bahnhof kontrolliert. Er wird wütend – sagt, er wird immer wieder aus der Masse herausgezogen.
Ein junger Mann wird am Bahnhof kontrolliert. Er wird wütend – sagt, er wird immer wieder aus der Masse herausgezogen. | Bild: Moll, Mirjam

Soll heißen: Ausländer oder Menschen mit ausländischem Aussehen fallen eher ins Raster, wenn es darum geht, Sekundärmigration aufzudecken. Ein junger Mann, der ebenfalls kontrolliert wird, ist sichtlich empört über die Kontrolle.

Er hat dunkles Haar, seine Hautfarbe ist etwas dunkler als die eines Durchschnittsdeutschen. „Immer bin ich es, der kontrolliert wird“, schimpft er. Die Beamten versuchen, ihn zu beruhigen. Er hat einen Aufenthaltstitel, alles ist in Ordnung.

Schwerpunkt Konstanz

Die Kontrolle am Bahnhof geht leer aus – dieses Mal. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache: Allein im Zuständigkeitsbereich der Bundespolizeidirektion Stuttgart wurden im ersten Quartal des Jahres 350 Flüchtlinge angetroffen, 240 davon in Konstanz.

Bei 200 Menschen bestand „der Verdacht der unerlaubten Einreise wegen Zweckwechsels“, 130 davon im Bereich der Bundespolizeiinspektion Konstanz. Bei 80 von ihnen (40 davon in Konstanz) wurden „aufenthaltsbeendende Maßnahmen“ eingeleitet – die Abschiebung also.

36 Fälle von Sekundärmigration wurden festgestellt, 30 davon entfallen auf Konstanz. Soll heißen: Bei der Einreise wurde ein Grund genannt – etwa der Besuch von Verwandten und Freunden, tatsächlich aber, vermutet die Bundespolizei, steckt etwas anderes dahinter: Deutschland nicht mehr zu verlassen. Diese Fälle wurden angezeigt. Die Dunkelziffer, schätzt man in der Bundespolizei, dürfte deutlich höher liegen.

Zürich als Brennpunkt

Zwar werden deutsche Flughäfen häufig direkt angeflogen, dennoch „liegt momentan der Flughafen Zürich bei den Einreisen von in Griechenland schutzberechtigten Personen europaweit auf einem Spitzenplatz“, so Bartelt.

Wer mit dem Flugzeug kommt, versucht häufig, von dort mit öffentlichen Verkehrsmitteln wie Bus und Bahn weiterzureisen, oder aber über organisierte Abholungen mit dem Auto.

Christoph Förster am Bahnhof Konstanz bei einem Einsatz der Bundespolizei gegen illegale Migration.
Christoph Förster am Bahnhof Konstanz bei einem Einsatz der Bundespolizei gegen illegale Migration. | Bild: Moll, Mirjam

Organisierte Schleusung also? Die Annahme liegt nahe. So würden immer wieder die gleichen Abholer festgestellt, heißt es dazu aus der Bundespolizeidirektion Stuttgart. Doch an die Hintermänner ist oft schwer heranzukommen. Sofern ein Anfangsverdacht gegen jemanden gewonnen werden könne, werden Ermittlungen eingeleitet. In den wenigsten Fällen führen sie zum Erfolg.

Von 53 Abholern im Bereich der Bundespolizeidirektion Stuttgart kam bei 15 Personen der Verdacht „des Einschleusens von Ausländern“ auf, sie wurden angezeigt. 13 davon entfallen auf den Bereich der Bundespolizeiinspektion Konstanz.

Christoph Förster und sein Kollege kontrollieren die Insassen eines voll besetzten Kombis. Drei der vier haben keine Ausweispapiere bei sich
Christoph Förster und sein Kollege kontrollieren die Insassen eines voll besetzten Kombis. Drei der vier haben keine Ausweispapiere bei sich | Bild: Moll, Mirjam

Standortwechsel: Die Bundespolizeibeamten sind auch an der Schweizer Grenze zu Kreuzlingen im Einsatz. Ein vollbesetzter Toyota fällt auf. Förster und sein Kollege winken ihn raus. Der Fahrer hat einen Aufenthaltstitel in der Schweiz, doch die übrigen drei Mitfahrer, eine Frau und zwei Kinder, haben gar keine Papiere bei sich. Sie geben an, in Konstanz einkaufen zu wollen.

Die Schweizer Kollegen werden um Hilfe gebeten. Sie können mit ihren Geräten prüfen, ob die Familie tatsächlich in der Schweiz registriert ist und wer die anderen drei sind. Die Geschichte bestätigt sich. Ein Verwarngeld von 40 Euro für die beiden Elternteile wird trotzdem fällig. Der Fahrer macht wütend kehrt.

Auch Fernbusse wurden eine Zeit lang häufig von Flüchtlingen genutzt, inzwischen sind sie aber seltener geworden, da sie durch die Pandemie lange gar nicht oder nur eingeschränkt fahren konnten.

Zwei Bundespolizisten kontrollieren in einer Glaskabine die Personalien mehrerer Insassen eines Wagens, den sie am Grenzübergang vor ...
Zwei Bundespolizisten kontrollieren in einer Glaskabine die Personalien mehrerer Insassen eines Wagens, den sie am Grenzübergang vor Konstanz angehalten haben. | Bild: Moll, Mirjam

An diesem Tag wird ein Flixbus von Mailand erwartet. Bundespolizist Stefan Waldhäuser wird ihn kontrollieren. Erst  zwei Wochen zuvor traf er einen Mann und seinen Sohn in einem solchen Bus an: Flüchtlinge registriert in Griechenland.

Sie waren nach Mailand geflogen und dort in den Bus gestiegen – Richtung Hamburg. „Sie hatten Rückflugtickets und ihre Geschichte wies keine Widersprüche auf“, sagt Waldhäuser. In solchen Fällen sind ihm die Hände gebunden. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass die beiden die Tickets nicht nutzen werden. Auch das ist ein bekanntes Vorgehen, wie aus der Bundespolizei zu erfahren ist.

Schweizer Migrationsbehörde kennt Phänomen

Auch in der Schweiz bestätigt man das Phänomen: Zwar werden keine Zahlen erfasst, weil es sich ja zunächst um legales Reisen im Schengenraum handele, heißt aus dem Staatssekretariat für Migration (SEM).

Doch auch hier habe man „seit Anfang des Jahres eine steigende Zahl von Personen festgestellt, die mit einem von Griechenland ausgestelltem internationalem Schutzstatus durch die Schweiz reisen, um andere EU-Länder, insbesondere Deutschland, zu erreichen“, erklärt Sprecher Lukas Rieder. Man stehe im Austausch mit den Behörden der Nachbarn, vor allem den Deutschen.

Bild 6: Asylantrag statt Urlaub: Warum die Bundespolizei derzeit mehr illegale Flüchtlinge an der Grenze und an Flughäfen aufgreift
Bild: Mrjam Moll

Die internationale Zusammenarbeit, um das Phänomen einzudämmen, besteht zwar. Doch sogenannte grenzpolizeiliche Unterstützungsbeamten, wie sie die Bundespolizei in Griechenland einsetzt, dürfen nicht eingreifen, nur beraten, „im Hinblick auf Echtheit und Gültigkeit von amtlichen Dokumenten sowie die rechtmäßige Nutzung der Dokumente“, erklärt Bartelt weiter. Immerhin können sie Hinweise an die Kollegen zu Hause übermitteln, wie viele Flüchtlinge im Flieger sitzen. Die Sekundärmigration verhindern lässt sich dadurch kaum.