Von beißendem Gestank und infernalischer Hitze berichteten die Reporter des SÜDKURIER. Orangefarbene Lichtblitze und „wie mit schmutzigem Purpur verkleidete Feuerbälle“ machten die Nacht zum Tag. Eine „pechschwarze Chemikalienwolke“ wälzte sich in Richtung Basel. Was klingt wie Kriegsberichterstattung, drückt die Erschütterung selbst professioneller Augenzeugen aus.
Fast 40 Jahre danach meint man, den Schrecken immer noch zu spüren, den die „größte Katastrophe in der Geschichte der Basler Chemie“ auslöste: Am 1. November 1986 kam es im Industriegebiet Schweizerhalle am Rhein bei Basel zu einem folgenschweren Großbrand.
Eine Lagerhalle des Chemiekonzerns Sandoz, in der 1350 Tonnen gefährlicher und giftiger Chemikalien untergebracht waren, brannte. Bis zu 60 Meter hoch loderten die Flammen. 180 Feuerwehrleute versuchten lediglich, ein Übergreifen des Feuers auf benachbarte Hallen zu verhindern, in denen noch viel gefährlichere Stoffe lagerten. Der eigentliche Feuerherd brannte komplett ab.
Der Schicksalsfluss ein Chemikalienkanal
Unmengen von Löschwasser waren nötig, das Großfeuer in Schach zu halten. Dieses Löschwasser mischte sich mit freigesetzten Insektiziden, Herbiziden, Fungiziden und Quecksilberverbindungen. Die Giftbrühe floss ungefiltert in den Rhein. In der Folge kam es zu einem ökologischen Desaster katastrophalen Ausmaßes. In der Giftwelle trieben bis zu einer halben Million toter Fische. 400 Kilometer flussabwärts waren alle Aale tot. Bis in die Niederlande mussten Klärwerke für über 18 Tage den Betrieb einstellen. Zwischen Koblenz und Bonn übernahm die Feuerwehr die Trinkwasserversorgung. Die Getränkehändler machten mit Mineralwasser das Geschäft ihres Lebens.
Was aber aus dem Störfall am Oberrhein ein unübersehbares Symbol für den destruktiven Umgang mit Natur und Umwelt machte, war ein Stoff namens Rhodamin B. Das ist ein roter Farbstoff, mit dem chemisch behandeltes Saatgut als nicht genießbar markiert wird. Auch Rhodamin B, selbst ungiftig, gelangte mit dem Löschwasser in den Rhein und färbte ihn bis nach Nordrheinwestfalen blutrot. Der „Schicksalsfluss“ der Deutschen ein blutroter Chemikalienkanal – das war nun wirklich ein Menetekel!

Dass der Fluss seit Mitte der 50er-Jahre zur Schiffsautobahn und Abwasserrinne geworden war, dass der Rhein allgemein als „Kloake Europas“ bekannt war – das machte bloß ein paar „Ökospinner“ unruhig. Doch ein roter Rhein, das ging nun gar nicht. Überdies gab es noch diesen beunruhigenden Zusammenhang mit einem anderen „Großschadensereignis“, auf den tags darauf Demonstranten in Basel und anderswo sofort hinwiesen: „Chemie-Tschernobyl vor unserer Haustür“ lautete die Parole.
Die Nuklearkatastrophe in der Sowjetrepublik Ukraine war ja allen noch vollkommen präsent, vor gerade mal acht Monaten war dort ein Reaktor hochgegangen. Auch der Chemieunfall im indischen Bhopal mit Tausenden von Toten lag keine zwei Jahre zurück. Nicht zu vergessen die latenten Sorgen, die den Menschen das „Waldsterben“ und giftiges Blei auf Salat und Gemüse bereiteten. Wohl wie niemals zuvor wurde 1986 deutlich, dass die Kollateralschäden des industriellen Fortschritts unkalkulierbar wurden.
Der Tisch, an dem die Anrainerstaaten des Rheins die Konsequenzen der Sandoz-Katastrophe diskutierten, steht in einer Villa in Koblenz, direkt am Ufer des Flusses. Die Internationale Kommission zum Schutz des Rheins (IKSR) wurde 1950 gegründet. Zwei Themen führten zur Einsetzung einer internationalen „Kommission zum Schutz des Rheines gegen Verunreinigung“, beide waren wirtschaftlich motiviert: aufgrund der Verschmutzung des Flusses verschwand der Lachs. Außerdem wurde es immer aufwendiger und teurer, Flusswasser so zu reinigen, dass es als Trinkwasser brauchbar war.
Heute fehlt nur noch der Stör
Ab 1986 wurde die IKSR in Koblenz dann definitiv zu einer Art Zentrum der Rhein-Fürsorge. Zum Mittelpunkt des Wissens- und Datenaustauschs, zum Ort zwischenstaatlicher Verabredungen, gemeinsamer Planungen und Vorbereitungen politischer Entscheidungen.
Die Rheinanliegerstaaten Schweiz, Liechtenstein, Österreich, Frankreich, Deutschland, Niederlande, Luxemburg sowie die Europäische Union koordinierten über die IKSR, wenig beachtet von der Öffentlichkeit, ein stilles, aber wirksamen Ökoprogramm mit dem Ziel, das Ökosystem Rhein zu retten und zu entwickeln.
Die Ergebnisse der Katastrophen-Aufarbeitung der Rheinanliegerstaaten können sich sehen lassen. Innerhalb eines Jahres etablierten die beteiligten Staaten erstmals ein verlässliches Mess- und Frühwarnsystem für den Rhein. Es gab neue gesetzliche Vorschriften zur Lagerung von Gefahrenstoffen. Die Chemiefabriken bauten Löschwasser-Rückhaltebecken ein – deren Fehlen hatte ja erst zu dieser fatalen Rheinvergiftung geführt.

Die Einleitung von Schadstoffen sank in den ersten 15 Jahren nach der Sandoz-Katastrophe um 70 bis 100 Prozent. Industrielle und kommunale Abwässer wurden schon 2000 zu 95 Prozent über Kläranlagen gereinigt (1985: 85 Prozent). Heute darf man feststellen: Der Rhein ist wieder relativ sauber. Die Tierwelt im Fluss hat sich erholt. Die meisten Rheinfische sind wieder essbar.
Mit 63 Arten ist die Fischfauna des alten Rheins fast komplett, es fehlt nur der Stör. Dank neu gebauter Fischpässe an den Wehren können heute Wanderfische, zum Beispiel Lachs und Meerforelle, von der Nordsee bis in den Oberrhein und einige Nebenflüsse im Elsass und im Schwarzwald aufsteigen und dort laichen.
Der rote Rhein hat also tatsächlich wie ein riesiges Ausrufezeichen gewirkt: als Mahnung und unübersehbarer Hinweis darauf, dass der Gesamtzustand und die Gesundheit des Flusses von allen Anliegern verantwortet werden muss.
Dass der Rhein eine funktionierende Wasserstraße sein muss, war den Anliegern seit seiner Schiffbarmachung zu Beginn des 19. Jahrhunderts klar. Dass aber jede Einleitung, jedes Wehr, jede Uferbefestigung und -bebauung, jede Veränderung des Flussbettes und jede Hochwasserschutzmaßnahme einen Eingriff in das Ökosystem Fluss bedeuten, der alle Anrainer etwas angeht – das machte erst jener erste November 1986 klar.
Das Großschadensereignis Sandozkatastrophe scheint mit geholfen zu haben, dass die Anrainerstaaten endlich im Sinne eines ökologischen Umsteuerns tätig wurden. Alles gut also? Nein, noch lange nicht. Basel ist für Lachse wegen der unüberwindbaren französischen Wehre zwischen Iffezheim und Basel nicht erreichbar. Und auch wenn die Wanderfische heute den Rhein und seine Nebenflüsse wieder ziemlich weit hoch wandern können: Kormorane, Welse und Schiffsschrauben dezimieren die wieder aufgebauten Bestände so deutlich, dass eine „Erholung“ fraglich wird.
Und leider wurden manche Probleme gar nicht gelöst, sondern bloß exportiert. Einige Chemiewerke haben ihre Produktion teilweise in asiatische Länder mit weniger Vorschriften verlagert. Am Rhein verblieb die Produktion unkritischer Stoffe. Wenn der Rhein also heute sehr viel sauberer als vor 40 Jahren ist, wenn wir drin baden und Lachse entdecken können, dann wird die Rechnung dafür wahrscheinlich auch von Menschen in Fernost bezahlt.