Nirgendwo sieht man Plakate. Auch am Standort selbst, im Zürcher Unterland, steht nichts, aber auch gar nichts, was auf seine bedeutende Zukunft weist.
Unter der Septembersonne krümmt sich hier die Landschaft, auf den Wiesen wuchert es grün. Dichter Nadelwald rahmt das Gelände, wo absehbar Atommüll ganze 900 Meter in die Tiefe fahren soll. Seit einem Jahr ist dieser Ort berühmt: Stadel, Gebiet Haberstal. Denn am 12. September 2022 verkündete die zuständige Behörde, dass genau hier, Schweizer Voralpenidylle, ein Grab für den nuklearen Abfall des Landes entstehen soll.
„Das Gebiet leistet einen wichtigen Beitrag“
Auffallend ruhig geht es hier zu. Stadel, 2300 Einwohner, viele Geranien, ebenso viele Kühe, scheint sich irgendwie abgefunden zu haben mit dem Vorhaben der Nation. „Das Gebiet leistet einen wichtigen Beitrag in dieser Aufgabe.“ Ein Satz, den man an vielen Stellen hört. Von den zuständigen Behörden, den Menschen in der Provinz. Wut über ein Atomendlager gleich nebenan, die bleibt, wenn es sie denn überhaupt je gab, eher geräuschlos.
Lauter ist sie auf der anderen Seite des Rheins.
„Nördlich Lägern“, wie der mögliche Standort heißt, liegt nur zwei Kilometer von der südbadischen Gemeinde Hohentengen am Hochrhein entfernt. Es sei der sicherste Standort für ein Tiefenlager, hatte die Nagra, die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, vergangenes Jahr betont.
Die Geologie habe gesprochen. Ihre Argumente? Opalinuston kann radioaktive Stoffe binden, ist homogen, laut Nagra sehr sicher, hat selbstheilende Kräfte. Das Gestein bietet an diesem Ort außerdem viel Platz für ein Tiefenlager, achtmal so viel wie eigentlich nötig.

„Nördlich Lägern“. Dieser eine Standort aus dreien soll es werden. Der Entscheid gilt als sicher, muss aber noch durch viele politische Hürden des Landes. Seit der Verkündung im vergangenen Jahr ist die Nagra dabei, ihre Erkenntnisse, die Berichte, Unterlagen und Daten zusammenzuschreiben. Ende 2024, so der Stand, will sie das Rahmenbewilligungsgesuch einreichen.
Mehrere Tausend Seiten sind das, darunter auch eine sogenannte Umweltverträglichkeitsprüfung, die sich mit den Pflanzen, Insekten und dem Boden vor Ort befasst. Die Feldarbeiten für diesen Bericht dauern wohl bis Anfang nächsten Jahres. Vorstellen, sagt Philipp Senn von der Nagra, müsse man sich hier die Arbeit mit einem Kleinbagger, der eineinhalb bis zwei Meter in die Tiefe buddelt. Oder Gutachter, die mit einem Handnetz durch die Felder laufen und Heuschrecken fangen, um die Naturwerte zu dokumentieren.
Bohrarbeiten erst wieder für 2027 angesetzt
Mehr spielt sich an der Oberfläche, aber auch im Untergrund gerade nicht ab. Erdarbeiten seien erst wieder für etwa 2027 angesetzt, sagt Philipp Senn. Ab dann wolle man im Bereich der späteren Schächte zwei bis drei tiefe Bohrungen vornehmen, um den Baugrund kennenzulernen, damit dann auch rechtzeitig die Planungsarbeiten und Ausschreibungen für den späteren Bau gemacht werden können. Für den Bau des Lagers hat die Nagra 15 Jahre veranschlagt, von 2045 bis 2060.
Es ist ja auch kein einfaches Projekt. Was die Schweiz hier plant, hat noch kein Land vollbracht. Nur Finnland ist gerade dabei, ein geologisches Tiefenlager zu bauen. In Deutschland will man sich frühestens 2046 wieder zu einem Standort äußern, nach pessimistischen Berechnungen vielleicht sogar erst 2068.

Das Alpenland ist Vorreiter. „Man leistet im gesellschaftlich-politischen Kontext Pionierarbeit“, sagt Philipp Senn. 14 Jahre lang hat die Schweiz nach einem passenden Endlager für ihren Strahlenabfall gesucht. Und offenbar gefunden. Auf deutscher Seite hat das Urteil allerdings verblüfft.
Man nehme die Entscheidung „mit großem Erstaunen“ zur Kenntnis, schrieb Martin Benz, damaliger Bürgermeister der Gemeinde Hohentengen. Was nämlich viele entlang des Hochrheins bis heute nicht verstehen: Die Schweizer Behörde wollte „Nördlich Lägern“ 2015 schon einmal zurückstellen. Und der soll nun der sicherste Standort in der ganzen Schweiz sein?
Das geplante Tiefenlager der Schweiz
Philipp Senn erklärt die Kehrtwende so: Man habe damals zu vorsichtig entschieden. Zu diesem Zeitpunkt sei die Frage, wie gut sich ein Tiefenlager an diesem Standort bauen lasse, vor allem aus Ingenieurssicht unklar gewesen. Senn sagt: „Je tiefer, desto herausfordernder ist der Bau.“ In „Nördlich Lägern“ liege der Opalinuston besonders tief, man sah also einen Nachteil für den Ausbau.
„Nördlich Lägern“ fiel zurück in den Topf
Sicherheitsbehörden und Kantone aber intervenierten, wodurch „Nördlich Lägern“ zurück in den Topf fiel. Inzwischen, sagt Senn, habe man eine wesentlich belastbarere Datenlage. Der Nagra-Sprecher kann verstehen, dass das von außen betrachtet seltsam anmuten kann. Er ist sich dennoch sicher: „Dieser Fall hat gezeigt, dass das Mehraugenprinzip sehr gut funktioniert.“
Lagern sollen die radioaktiven Abfälle im tiefen Gestein bei Haberstal ab 2050. Sie kommen zu rund vier Fünfteln aus den Kernkraftwerken der Schweiz, zu einem Fünftel aus Medizin, Industrie und Forschung. Bis es wirklich soweit ist, müssen Regierung, Parlament und voraussichtlich auch das Volk in der Schweiz dem Vorschlag der Nagra allerdings zustimmen.
Und die Deutschen müssen zuschauen. Naja, nicht ganz.
Jürgen Wiener zum Beispiel will das nicht, nur Zaungast sein, sondern auch Teil des Prozesses. An diesem Dienstag sitzt er in seinem Büro in Hohentengen, auf dem Platz von Martin Benz, den er vor etwa 100 Tagen im Amt des Bürgermeisters beerbt hat.

Er schaut bei diesem Jahrhundertprojekt der Schweiz also ganz genau hin, ist Teil der Regionalkonferenz „Nördlich Lägern“ und möchte sogar einer ihrer Vorsitzenden werden. Der Bürgermeister sagt: „Es geht uns um Transparenz.“ Weil er kein Wissenschaftler ist, will er den Entscheid der Nagra nicht grundsätzlich infrage stellen. Ihm sei wichtig, die Gründe für das Gebiet in seiner Nachbarschaft für die Bürger nachvollziehbar zu machen.
„Wir müssen den Verantwortlichen gegenüber die richtigen Fragen stellen.“ Was zum Beispiel passiert, wenn ein Flugzeug über dem Endlager abstürzt? Was wird aus dem Grundwasser, wenn es zu einem Zwischenfall kommt? Wird man den Strahlenmüll für immer wegschließen? Oder kann man ihn irgendwann zurückholen?
Was man von Hohentengen nicht erwarten könne, und da ist Wiener deutlich, dass man das Urteil hier leise akzeptiert. „Es geht um eine Toleranz des Tiefenlagers – und darum, als Gemeinde gehört und eingebunden zu werden.“ Bisher sei das gelungen, meint der Bürgermeister. Es müsse auch so bleiben.
Schweizer Endlager an Grenze: Imageschaden der Erholungsregion?
Auch Philipp Senn von der Nagra betont, dass man eng im Austausch stehe. „Es hat sich eine gute Zusammenarbeit mit der Regionalkonferenz und den lokalen Behörden etabliert – die hoffen wir so fortzuführen.“ Das Tiefenlager sei ein großes Projekt. „Es soll aber auch ein verträgliches Projekt werden, dafür ist ein guter Dialog wichtig.“ Denn – und dann wieder dieser Standardsatz: „Die Region leistet einen wichtigen Beitrag bei dieser Aufgabe.“ Auf beiden Seiten des Rheins.
Auf beiden Seiten des Rheins, auch das ist absehbar, wird sich das Endlager auf das Image als Erholungsregion auswirken. In Hohentengen sind die Immobilienpreise bisher zwar noch nicht gesunken, es gilt aber als wahrscheinlich. Trotz all dem ist sich die Region bewusst: Was größtenteils wie ein Albtraum klingt, birgt auch Chancen. Da ist der Wissenschafts- und Forschungsstandort etwa, der sich durch „Nördlich Lägern“ dauerhaft entwickeln könnte, die Beschäftigung, die das Endlager schaffen wird.

Die Anlage könnte zusätzlichen Wohnraum mit sich bringen und veränderte Bedürfnisse an die Infrastruktur. Und wer weiß, vielleicht entsteht ja sogar eine Universität in der Grenzregion? Möglichkeiten gebe es viele, sagt Jürgen Wiener. „Wir dürfen den Kopf nicht in den Sand stecken und die Region verkommen lassen. Wir müssen touristische Anreize setzen, die das Endlager wieder aufwiegen.“ Hohentengen habe viel zu bieten.
Gedanken macht man sich viele. Auch zu Ausgleichszahlungen, also Entschädigungen für jene Gemeinden, die durch das Tiefenlager nachweislich belastet werden. Die deutsche Bundesregierung hatte schon vergangenes Jahr betont, Entsprechendes aus der Schweiz für die deutsche Seite zu erwarten. Die Verhandlungen, das bestätigen Nagra und Jürgen Wiener, sind aber noch nicht angelaufen.
Allerdings würde sich die Beteiligten – die Kommunen und die Region auf der einen Seite sowie die Entsorgungspflichtigen auf der anderen Seite – darauf vorbereiten. Anfang kommendes Jahr könnte man sich dann vielleicht schon an einen Tisch setzen, um die Sache auszuhandeln.