Vor seelischen Krisen waren die Menschen noch nie gefeit, so viele Fälle von depressiven Erkrankungen wie heute aber hat es nie zuvor gegeben. Viele führen das auf den gestiegenen Stress zurück, auf Mobiltelefone und digitale Netzwerke. Doch Stress hatten auch frühere Generationen. Die typischen Merkmale heutiger Depressionskrankheiten dagegen waren ihnen – etwa im Unterschied zu Neurosen – weitgehend unbekannt.

Krankheit der Verantwortlichkeit

Der Soziologe Alain Ehrenberg hat das Phänomen erforscht. Er sagt: Depression ist eine Krankheit der Verantwortlichkeit. Sie breite sich aus, weil unsere Gesellschaft, immer mehr Selbstbestimmung einfordere statt Disziplin und Gehorsam. Der von seinen sozialen Fesseln befreite Mensch leide unter dem Eindruck, seinen Ansprüchen nicht genügen zu können. Er sei „der Aufgabe der Selbstwerdung nicht gewachsen.“

Das erste literarische Beispiel für diesen Typus findet sich in Anton Tschechows Drama „Iwanow“, das jetzt am Stuttgarter Schauspielhaus in einer Inzsenierung von Robert Icke Premiere hatte. Der britische Regisseur ist bekannt für rabiate Aktualisierungen. So beraubt er den Titelhelden nicht nur seines intellektuellen Habitus und seiner pathetischen Sprache, sondern sogar seines Nachnamens: Iwanow heißt in Stuttgart Hoffmann (Benjamin Grüter) und statt eines bücherlesenden Bildungsbürgers sehen wir einen Snob aus der Finanzbranche mit weißem Hemd und Hipsterbart.

Wenig Hoffnung für Hoffmann (Benjamin Grüter): Statt Karriere zu machen schiebt er Frust.
Wenig Hoffnung für Hoffmann (Benjamin Grüter): Statt Karriere zu machen schiebt er Frust. | Bild: Thomas Aurin

Sein Haus am See, ein Podest inmitten der gefluteten Bühne, spiegelt mondänes Leben vor, wo in Wahrheit die Schulden drücken. Hoffmanns Frau Anna (Paula Skorupa) leidet erstens am Verlust seiner Liebe, zweitens an Krebs. Die Hochzeit liegt gerade mal fünf Jahre zurück, da liegt das Eheglück auch schon in Trümmern.

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Wie ein Tiger im Käfig kreist Hoffmann um seine Sitzbank, die verdächtig nach Sarg aussieht. „Dieses Haus drückt mich nieder wie ein Bleigewicht“, ächzt er. Was ist nur los mit ihm? Warum fühlt er weder Liebe noch Mitleid, sondern nur „so ein Vakuum“?

Wackliges Fundament

Vielleicht liegt es ja an den vielen Erfolgsgeschichten um ihn herum. Sein alter Studienfreund Peter (Michael Stiller) lebt mit Frau und Kind gleich nebenan. Statt Schulden hat die Familie Schuldner (unter anderem Hoffmann selbst), eine blühende Gesundheit und viele Freunde. Dass auch ihr Haus – mehr Schein als Sein – auf wackligem Fundament steht, tut nichts zur Sache. „Das Fundemant ist schwach“, stellt die Hausherrin (Marietta Meguid) klar: „aber nicht wir!“

Kontrastprogramm: Bei Peter und seiner Familie ist immer Partystimmung.
Kontrastprogramm: Bei Peter und seiner Familie ist immer Partystimmung. | Bild: Thomas Aurin

Alle haben sie ihre Freiheit genutzt, um Erfolg, Geld und Anstand zu erlangen. Das gilt vor allem für den super integren Doktor Eugen (Felix Strobel), der sich um Annas Gesundheit kümmert. Eugen weiß ganz genau, was seine Patientin zugrunde richtet: der Egoismus, die Gefühlskälte ihres Mannes. Da liegt die Frau im Sterben, und der Mann vertreibt sich seine Zeit beim Kumpel um die Ecke! „Sie bringen Ihre Frau um!“, ruft ihm Eugen empört zu.

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Die Handlungsfreiheit uns in ätherische Höhen aufschwingen lassen. Sie kann uns aber auch in einen Strudel des Scheiterns ziehen. Dass Hoffmann den Ort seiner Schmach nicht erträgt und Trost bei Peter sucht, wird ihm als Verrat an der Ehefrau ausgelegt. Und als Peters hübsche Tochter Sascha (Nina Siewert) in ihrem pubertären Trotz ausgerechnet diesem melancholischen Träumer schöne Augen macht, glauben alle, er selbst habe es auf das junge Ding abgesehen. Es ist wie verhext: Je konsequenter Hoffmann seinen moralischen Ansprüchen zu genügen versucht, desto verdächtiger erscheint er seiner Umgebung.

Sascha (Nina Siewert) will Hoffmann (Benjamin Grüter) neuen Lebensmut vermitteln.
Sascha (Nina Siewert) will Hoffmann (Benjamin Grüter) neuen Lebensmut vermitteln. | Bild: Thomas Aurin

Es ist dieser Widerspruch, aus dem Robert Icke mit seiner geradezu dreist poppigen Entschlackung des romantischen Duktus komödiantische Momente gewinnt. Wie sich die moralische Selbstgewissheit des gutmenschelnden Arztes nach und nach als blanke Eifersucht entpuppt, wie Sascha mit ihrer Schwärmerei die Eltern provoziert, und wie Peter versucht, seinen Freund mit naiver Küchenpsychologie wieder in die Spur zu bringen: Das alles ist von einer bittersüßen, erhellenden Komik.

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Sprachpuristen mögen ob der schnoddrig heutigen Dialoge die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Wer die Sache entspannter sieht, erfreut sich an einer schlüssigen Deutung dieses Klassikers mit einem wunderbar poinentsicheren Michael Stiller in der Rolle des unbeholfenen Beobachters, einer jugendlich selbstbewussten Nina Siewert als Sascha und einer glaubhaft leidenden Paula Skorupa als Anna. Allenfalls Benjamin Grüters Interpretation der Hauptrolle würde man sich mehr existienzielle Tiefe wünschen.

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Am Beispiel des modernen Iwanow namens Hoffmann zeigt sich nicht nur die Depression eines Einzelnen, sondern einer ganzen Gesellschaft. Die einen verstecken sie hinter Moral, die anderen hinter Geld. Gemeinsam ist ihnen die Unsicherheit, die Einsamkeit und die Angst vor der Aufgabe, ein selbstbestimmtes Leben führen zu müssen.

Kommende Vorstellungen: am 1., 14., 26. Dezember, jeweils um 19.30 Uhr am Stuttgarter Schauspielhaus. Weitere Informationen: http://www.schauspielstuttgart.de