Der britische Prinz Harry versteht sich mit seinem Bruder William nicht mehr so gut, was auch an deren Ehefrauen Meghan und Kate liegt, denen ein Zickenkrieg nachgesagt wird, der wiederum einer von beiden schwer zusetzt. Vielleicht fragen Sie sich jetzt: Wen um Himmels Willen interessiert das alles? Die Antwort lautet: offenbar fast jeden.

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Vergessen Sie den Brexit, die Syrienkrise oder das Ringen um eine Regierungsbildung in Thüringen. Geht es um Zugriffszahlen, Lesezeiten und Einschaltquoten, so stellen zurzeit die familiären Probleme des Hochadels alle anderen Themen in den Schatten.

Das ist umso erstaunlicher, als das Misstrauen gegenüber absolutistischen Tendenzen größer scheint als je zuvor. Populisten inszenieren sich als weiße Ritter des einfachen Volks und eilen im Kampf gegen vermeintlich abgehobene Eliten von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. Bürgerinitiativen fordern unverdrossen eine Stärkung der direkten Demokratie. Und wenn Nachfahren der Hohenzollern vom Staat wertvolle Kunstschätze zurückfordern, bricht allgemeine Empörung aus. Wie passt das zum Hype um royale Privatangelegenheiten?

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Ein Blick in die Märchenliteratur gibt Aufschluss. Mögen Prinzen sich heute auch als Gejagte eines ungebändigten Boulevardjournalismus sehen: Bei den Brüdern Grimm spielen sie noch die Rolle des Befreiers. Von bösen Mächten unterdrückte oder verfluchte Frauen wie Rapunzel, Dornröschen oder Aschenputtel verdanken ihnen eine unverhoffte Erlösung aus ihrem Elend. Eben noch weggesperrt, gedemütigt und verkannt, reiten sie plötzlich auf einem Schimmel in den Sonnenuntergang und leben „glücklich bis ans Ende ihrer Tage“. Was für eine Aussicht!

Romantik mit Schimmel: Der Prinz (Pavel Trávnícek) passt Aschenbrödel (Libuse Safránková) in „Drei Haselnüsse für ...
Romantik mit Schimmel: Der Prinz (Pavel Trávnícek) passt Aschenbrödel (Libuse Safránková) in „Drei Haselnüsse für Aschen-brödel“ den Schuh an. | Bild: WDR

Für den Sozialwissenschaftler Joachim Renn liegt in dieser Aussicht ein wesentliches Motiv für die heutige Faszination am Adel. Zwar wünsche sich niemand ernsthaft eine Monarchie zurück, in der Macht und Reichtum allein von der Gnade der Geburt abhängig waren. Der Adel diene aber als Fläche für eine „diffuse politische Projektion“. Und zu den Sehnsüchten und Hoffnungen, die in dieser Projektion zu finden sind, gehört die Idee von der Erlösung.

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Mag auch die kapitalistische Moderne mit ihrem Leistungsprinzip für eine gerechtere Verteilung von materiellen Gütern sorgen: eine Garantie auf kollektive Glückseligkeit bietet freilich auch sie nicht. Die Erfahrung, im Beruf unverschuldet unter den eigenen Möglichkeiten zu bleiben, bestimmt das Leben zahlreicher Arbeitnehmer. Gläserne Decken trennen heute zwar nicht mehr die Stände, dafür aber Menschen aus unterschiedlicher sozialer Herkunft mit ungleichen Bildungschancen – auch das Geschlecht spielt noch immer eine Rolle.

Von grauer Maus zur Prinzessin

Der klassische Adel bietet zu dieser mit Mängeln behafteten Leistungsgesellschaft einen verlockenden Gegenentwurf. Hier, so lautet die verbreitete Vorstellung, kommt man noch ganz ohne Arbeit zu Geld. Und nicht nur das: Mit ein wenig Glück kann auch die bürgerliche graue Maus unversehens zur strahlenden Prinzessin aufsteigen. Es bedarf nur des Prinzen, der im Aschenputtel den wahren Kern, seinen „inneren Adel“ erkennt. Eine „protoreligiöse Erlösung aus dem Elend des Gewöhnlichen“ nennt Renn diese Hoffnung.

Es gibt weitere Gründe, das Leben der modernen Märchenprinzen zu verfolgen. Zum Beispiel die Möglichkeit, als einfacher Bürger Macht zu verspüren. Mit ihrer Empfehlung, bei Brotmangel doch einfach Kuchen zu essen, verhöhnte einst Frankreichs Königin Marie-Antoinette ihr Volk: Heute bedingt sich ebendieses Volk das Recht aus, selbst über intimste Details im Bilde zu sein. Die Macht des Adels ist nur noch eine rein formelle, in Wahrheit sitzen Boulevardjournalisten und ihr Publikum am längeren Hebel.

Der kleinste Fehltritt ist skandalös

Ja, man muss die solcherart in ihrem Privatleben kontrollierten Blaublüter bedauern. Schon allein, weil sie sich plötzlich einem Moralkodex ausgesetzt sehen, der ihren Gewohnheiten fundamental widerspricht. War es doch Jahrhunderte lang das Vorrecht von Prinzen gewesen, Ehen vor allem aufgrund politisch strategischer Erwägungen zu schließen, ihre sexuellen Bedürfnisse aber anderweitig zu befriedigen.

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Tragödien wie Gotthold Ephraim Lessings „Emilia Galotti“ erzählen davon, wie skrupellos sich solche Adligen bisweilen beim einfachen Bürgertum mit immer neuen Mätressen versorgten. Ein Leben in trauter Zweisamkeit, „glücklich bis ans Ende ihrer Tage“: Diese Vorstellungen von Ehe und Treue im Hochadel konnten wahrhaftig nur in Märchen gedeihen.

In Gotthold Ephraim Lessings Stück „Emilia Galotti“ ersticht Vater Odoardo (hier gespielt von Ulrich K. Müller am ...
In Gotthold Ephraim Lessings Stück „Emilia Galotti“ ersticht Vater Odoardo (hier gespielt von Ulrich K. Müller am Volkstheater Rostock) seine Tochter Emilia (Katja Plodzistaya), um sie vor einem Dasein als Mätresse des Prinzen zu bewahren. | Bild: Bernd Wüstneck

Heute dagegen erscheint schon der kleinste Fehltritt skandalös, als hätten Prinzen schon immer eine Vorbildfunktion in Sachen bürgerlicher Tugendhaftigkeit eingenommen. Die Wurzel dieser Erwartungshaltung ist in der Redewendung „Adel verpflichtet“ zu finden, die erst im 19. Jahrhundert aufkam und damit zu einer Zeit, als der Hochadel durch Industrialisierung und Demokratisierung schon gehörig unter Druck geraten ist.

Hort der Stabilität

Durch Selbststilisierung zu einem Hort der Stabilität und des sozialen Verantwortungsbewusstseins versuchte man damals, den vollständigen Verlust an gesellschaftspolitischer Bedeutung abzuwenden. Und tatsächlich sehen heute viele Menschen in den Adelshäusern einen letzten Garanten für Moral und Anstand. Vor allem aber liefern ihnen Europas Königshauser einen Anschein von nationaler, gesellschaftlicher Einigkeit in einer Zeit, die von Individualisierung und Zersplitterung geprägt ist.

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Sind die moralischen Verfehlungen von Prinzen und Prinzessinnen also besonders schlimm? Ganz im Gegenteil. Wenn sogar die vermeintlichen Experten für Tugendhaftigkeit an ihren Ansprüchen scheitern, kann auch der einfache Bürger leichter mit sich ins Reine kommen. Oder wie Soziologe Renn es beschreibt: „Das Scheitern der Adels-Ehen, Zwietracht und Zerwürfnis im Kreise der Erhabenen adeln die privaten Miseren des Publikums.“

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So entpuppen sich die alltäglichen Minitragödien im Hause Windsor und anderswo als Therapieangebote für eine verunsicherte Gesellschaft. Aus dem Widerspruch von Glamour und Elend, von inszenierter Tugendhaftigkeit und tatsächlichen Verfehlungen schöpfen Menschen die Hoffnung auf Erlösung – und auf Trost bei deren Ausbleiben. So gesehen: ein Glück, dass es den Adel überhaupt noch gibt!