Kaum zu glauben: Auch er, der große Lyriker, Essayist, Autor, Übersetzer und Herausgeber Hans Magnus Enzensberger, hat mal ganz klein angefangen und Sätze wie „LIBER-FATA-GOM-BALT“ geschrieben. Darunter hat er die „iLEGTERRiSCHE AiSENBAN“ gemalt und mit „MAGNUS“ unterzeichnet. In Rot.
Der Leser der Zeilen muss sich die einzelnen Buchstaben in der noch wackeligen Kinderschrift schon laut vorlesen, um ihren Sinn im Zusammenhang zu erfassen und zu begreifen, dass da ein Knabe auf die Heimkehr des Vaters wartet.
„Mit der Schrift beginnt der Schritt ins Abstrakte“, sagt Sandra Richter, seit Januar Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und mit Heike Gfrereis Kuratorin der morgen öffnenden Ausstellung „Hands On! Schreiben lernen, Poesie machen“. Gemeint sind die Anfänge von Ilse Aichinger, Durs Grünbein, Eduard Mörike oder Friedrich Schiller, die heute zu den ganz Großen gehören.
Mit den ersten Schreibübungen gelangen Gedanken aufs Papier, beginnt die individuelle Handschrift, der eigene Stil, vielleicht ein erster Roman. Eine Fülle dieser Schreibanfänge lagern im Literaturarchiv auf der Schillerhöhe. Es wird skizziert, gekritzelt, gemalt, verschnörkelt oder gestochen scharf geschrieben, mit Bleistift, Kugelschreiber, Füllfederhalter oder gar Gänsekiel.
Aber unter den 200 in der Ausstellung gezeigten Texten, Briefen, Schul-, Haus- und Übungsheften vom 18. Jahrhundert bis ins Heute sind auch Werke, die aus der Schreibmaschine oder dem Computer aufs Papier flossen.
Wo hört das Schreiben mit der Hand auf und fängt das Tippen und das Wischen über das Tablet an? Wer schreibt, wer lässt schreiben? Ist das Schreiben ein Akt der Demokratie oder der Hierarchie? Und hatten nicht auch Graphologen schon immer ein Interesse daran, eine Handschrift zu erkunden, um von ihr auf den Charakter des Schreibers zu schließen?
Von Sauklaue bis Schönschrift
In Marbach ist von einer Sauklaue bis zur Schönschrift alles dabei. Interessant wird es, wenn Franz Kafka mitten in einem Brief von der Schreibmaschine zur Hand wechselt und später die altdeutsche gegen seine heute viel bekanntere schwungvolle lateinische Schrift eintauscht.
Der Besucher begegnet der Schiefertafel, die Eduard Mörike als Notizblock mit sich führte, den Blättern und Baumrinden, die Mörike, Hermann Hesse und Peter Handke als Schreibunterlage dienten, und kann die ordentliche Handschrift von Erika und Klaus Mann mit einem Schulaufsatz des 16-jährigen Kurt Tucholsky vergleichen: Viele Jahre später hat dieser jenen noch einmal säuberlich abgetippt, inklusive der Kommentare seines Lehrers.
Auch J.R.R. Tolkien ist vertreten
Bilder sind den Texten dabei oft ganz nah, etwa in den bildhaften Zeichen des elbischen Alphabets bei J.R.R. Tolkien oder den gemalten Buchstaben von Cornelia Funke. Rote Fäden und Infokärtchen weisen dem Besucher an den Vitrinen der Dauerausstellung den Weg zu besonders reizvollen Exponaten.
Viele Blätter, Briefe und Hefte haben ihre gläsernen Käfige verlassen und laden als Faksimile ein, in ihnen zu blättern oder an Mitmachstationen selbst schreibend tätig zu werden. Auch für den Besucher heißt es: Hands on! Hand anlegen, mitspielen, ausprobieren!
Das kann Spaß machen. Da werden Texte in die Luft geschrieben und landen wie von Geisterhand an der Wand. Im Brettspiel von Sibylle Lewitscharoff lässt sich mit grammatikalisch richtigen Sätzen Ödland in der Wüste Gobi kultivieren oder man setzt seine eigene Handschrift neben Buchstaben von Theodor Fontane, Robert Gernhardt und Erich Kästner, die Archivmitarbeiter entschlüsselt haben und beim Entziffern von Schriftstücken heranziehen.
Das Museum als offenes Haus
Überhaupt ist der Museumskomplex mit dem Direktorenwechsel zum offenen Haus geworden: Unterirdisch geht es vom Schiller-Nationalmuseum zum Literaturmuseum der Moderne. Eins ist klar: Die Handschrift wird zunehmend von digitalen Medien verdrängt.
Als Goethe einst an Charlotte von Stein schrieb, er sei schreibfaul, muss die Angebetete die Worte als Ehre empfunden haben. Die Ausstellung, so Sandra Richter, sei insofern als Ehrbezeugung an Enzensberger gedacht, von dem die Idee zur Ausstellung stammt.
Sein Poesieautomat ist Endstation der Schau und wirft digital zusammengewürfelte Sätze aus, wenn man den Buzzer drückt. Dafür muss man aber wieder Hand anlegen. Und dann zehn bis 20 Sekunden Geduld haben. Auch das ist ja eher selten geworden.
„Hands On! Schreiben lernen, Poesie machen „ – Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne in Marbach. Bis 1. März 2020, geöffnet ist Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr. Weitere Informationen finden Sie hier.