Thea Stroh

Wem kann man heutzutage überhaupt noch trauen? In Zeiten von Fake News und Photoshop, politischer Einflussnahme und Informationskontrolle stellt sich diese Frage unentwegt. Sieht mein Date wirklich aus wie auf dem Online-Profil? Und wer garantiert mir, dass die Nachrichten nicht manipuliert sind?

Solche Vertrauensängste können sich bis ins Ungesunde steigern. Pistanthrophobie nennt sich eine psychische Störung: Wer unter ihr leidet, ist kaum mehr in der Lage, anderen Menschen zu vertrauen.

In einer Welt, in der unsere Wahrnehmung immer neuen Manipulationsversuchen ausgesetzt wird, nehmen solche Fälle zu. Eine Flut an Tipps und Infos soll dem entgegen wirken: So erkennen Sie manipulierte Bilder! So oft haben unsere Politiker gelogen! So sieht ihr Lieblingsstar ohne Make-up aus! Was aber ist es überhaupt, das uns für Täuschungen so anfällig macht?

Unsere Wahrnehmung besteht aus zwei aufeinanderfolgenden Prozessen: der Informationsgewinnung und ihrer inneren Verarbeitung. Letzteres geschieht in der Regel durch unbewusstes Filtern und Zusammenführen von Teilinformationen zu subjektiv sinnvollen Gesamteindrücken. Dieser Prozess lässt also eine Menge an Spielraum, wie objektive Realität zu unserer subjektiven Wahrnehmung werden kann – und viel Angriffsfläche für Manipulationen.

Während eine bearbeitete Fotografie in Fake News aber gerade versucht, uns ihren Schwindel zu verheimlichen, ist das Phänomen der Wahrnehmungsmanipulation für Künstler seit jeher ein willkommenes Feld, um über die Welt und die eigene visuelle Arbeit zu reflektieren. Hier treten Inhalte in den Hintergrund und Wirkungen in den Vordergrund.

Neue Spielart der Kunst

Seit Mitte der 1950er-Jahre entwickelt sich aus diesem Zusammenhang eine neue Spielart der bildenden Kunst, die den Sehsinn auf extreme Weise thematisiert: „Op Art: Bilder, die das Auge attackieren“ – so beschrieb der Kunstkritiker Jon Borgzinner 1964 diese neue Richtung.

Die Optical Art rückt mithilfe von geometrischen, vibrierenden Mustern, insbesondere Spiralen, optischen Kippeffekten und verzerrten oder zu sogenannten Moirés überlagerten Rastern genau das in den Fokus, wovor sich der klassische Photoshop-Zauberer am meisten fürchtet: die Entdeckung des Schwindels.

Das körperliche Taumeln und Wanken – fachsprachlich Vertigo genannt – steht hier wortwörtlich für den Effekt, den diese Kunst auf uns hat: Denn vom optischen Schwindel, wie kann es anders sein, wird uns schwindelig.

Zu Recht benennt das Kunstmuseum Stuttgart seine aktuelle Schau also „Vertigo – Op Art und eine Geschichte des Schwindels“, auch in Anlehnung an den berühmten Hitchcock-Film von 1958, und zeigt anhand von rund 120 Bildern, Objekten und begehbaren Installationen, wie sich die optischen Täuschungen auf den ganzen Körper auswirken.

Denn die Werke der Op Art adressieren nicht allein den Sehsinn, sondern vermitteln ganzkörperliche Erfahrungen – bis hin zu sensorischer Überforderung. Zusätzlich zur modernen Op Art werden ältere Kunstwerke seit der frühen Neuzeit ausgestellt, die zeigen, dass und wie sich Künstler seit jeher mit der Optik und Verfahren der Sinnesmanipulation auseinandergesetzt haben. Zwischen Anamorphosen, Gängen im Stroboskoplicht und Spiralbildern dreht sich allerhand – und manch einem dreht sich der Magen um.

Ein Name, der im Zusammenhang mit der Op Art häufig fällt, ist Victor Vasarely. Der gemeinhin als „Vater der Op Art“ bezeichnete Maler und Grafiker zählt zu den Hauptvertretern einer Gattung, in der Künstler ihre individualistische Haltung ablegen und gemeinsam ihre künstlerische Arbeit als „visuelle Forschung“ betreiben.

Kunst in Bewegung

In den 1950er-Jahren entstand unter seinem Wirken das Programm einer kinetischen Kunst, bei der die Bewegung als integraler ästhetischer Bestandteil des Kunstobjekts Beachtung findet. Auch dann, wenn sich das Objekt nur scheinbar verändert, weil sich der Betrachter bewegt.

Solch einen Knick in der Optik findet man aber auch schon im Umkreis von Guido Reni – also bereits im italienischen Barock. Das großartige Riefelbild mit Porträts von Jesus und Maria aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, das es ebenfalls ins Kunstmuseum geschafft hat, vereint mit einem technischen Kniff zwei Gemälde auf einer Tafel: Je nach Perspektive des Betrachters sieht man hier entweder den Gottessohn oder seine Mutter.

Noch weiter in der Zeit zurück gehen die Spiele der Anamorphosen, bei denen Bilder durch Übertragung in ein übertrieben gedehntes Raster verzerrt werden. Erst wenn man diese durch die Zerdehnung unkenntlich gewordenen Motive aus einem bestimmten Blickwinkel oder einem verspiegelten Zylinder betrachtet, rekonstruiert sich das Bild. Erneut muss man sich der Erkenntnis stellen, dass insbesondere visuelle Wahrnehmung nichts Statisches ist.

Ein weiterer Höhepunkt von „Vertigo“ ist der „Spazio elastico“ (1967), mit dem der italienische Künstler Gianni Colombo auf der 34. Biennale in Venedig internationale Berühmtheit erlangte. Dem (Erfahrungs-)Raum liegt ein Raster aus Nylonfäden zugrunde, die ein isometrisches Netz bilden und von ultraviolettem Licht angestrahlt werden. Angetrieben durch elektrische Motoren verändert sich dieses Raster unaufhörlich und fordert das Wahrnehmungsvermögen der sich darin bewegenden Betrachter heraus.

Werke der Neuzeit und der Op Art werden hier im Grunde auf vergleichbare Verfahren der Täuschung, Manipulation und Irritation zurückgeführt. Dass zugunsten des Effekts bewusst auf Harmonie und einen tieferen Sinn im Werk verzichtet wird, entspricht einem Wandel vom Klassischen zum Antiklassischen.

Oder anders gesagt: So, wie sich der Barock im Manierismus, einer Zeit des Umbruchs, von den traditionell ausgewogenen, geometrisch kalkulierten Kompositionen der Renaissance abkehrt, so möchte sich auch die Op Art, als Manierismus der konkreten Kunst des 20. Jahrhunderts, über die klassische Kunst erheben und die Welt ins Wanken bringen.

Ausstellung als Forschungslabor

Wer den Ausstellungsparcours im Stuttgarter Kunstmuseum bezwingt, erkennt auch, dass es sich dabei um ein Forschungslabor handelt. Denn wer seiner Wahrnehmung auf den Zahn fühlen möchte, muss eben auch experimentieren, zum Beispiel im eigens eingerichteten Mitmach-Labor, das die Physik hinter den künstlerischen Phänomenen thematisiert – mit Risiko auf Vertigo.

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