Da wirft sich das Premieren-Publikum extra in exklusive Schale – und am Ende sitzen doch alle in Regencapes da. Wenn es zwei Akte lang durchgängig regnet, stechen praktische Erwägungen den modischen Chic dann eben aus. Aber das Regen-Risiko gehört bei den Bregenzer Festspielen dazu. Und dieses Mal traf es eben die Premiere von „Carmen“ auf der Seebühne.

Es Devlins Bühne mit den zwei riesigen aus dem Bodensee ragenden Händen erlebte so schon mal einen ersten kleinen Härtetest – und mit ihr die Darsteller und Darstellerinnen. Aber auch das ist in Bregenz Alltag. Rutschfeste Böden, windfeste Kostüme, störungsfreie Mikrofone – das gehört zur Basis-Ausstattung. Dass manche der Videoprojektionen auf den Spielkarten, die zwischen Carmens Händen in der Luft wirbeln, teilweise zu verschwimmen schienen, passte da schön ins Bild – sah es doch so aus, als würden sie tatsächlich im Regen verlaufen.

Überhaupt, die Bühne. Von ihr muss zuerst die Rede sein. Sie ist der eigentliche Star des Abends – während sich Kasper Holtens Inszenierung eher bescheiden ausnimmt. Die eingefrorene Geste der Hände, die ein Kartenspiel in die Luft werfen, hat eine Prägnanz, die man auf der Seebühne nicht immer erlebt. Es ist ein Bild, das sich in seiner Eindeutigkeit unmittelbar einprägt. Gleichzeitig bieten die Rückseiten der Spielkarten genügend Möglichkeiten, die Bühne mittels Videoprojektionen zu beleben und zu verändern. Und das passiert nun auch in aller Ausgiebigkeit (Video: Luke Halls).

Die Spielkarten scheinen sich zu drehen, man sieht die Vorderseiten – ganz oben meist die Herzdame als Symbol für Carmen –, Tarotkarten, Bilder von Stierkämpfern und gelegentlich auch Live-Projektionen der Bregenzer Sänger und Sängerinnen. Nachdem der erste Akt noch einigermaßen statisch über die Bühne gegangen ist und man die Verführungskraft der Carmen (Gaëlle Arquez) als unbewiesene Behauptung hinzunehmen beginnt, ist man hochgradig dankbar, wenn mit den Videos endlich und buchstäblich Bewegung ins Spiel kommt.

Und es gibt ja auch sonst genügend Spektakel. Ein wunderbares Wasserballett auf dem sich unmerklich absenkenen Spielboden, ein sich in den Bodensee werfender Carmen-Stunt, Feuerchen und Feuerwerk, und auch Carmens Bühnenbild-Zigarette beginnt irgendwann zu glimmen. Überhaupt zeigt sich Regisseur Kasper Holten bestens informiert über die Pflichtelemente einer Bregenzer Seebühnen-Inszenierung, die er auch alle brav abarbeitet: Feuer, Wasser, Stunts, Akrobatik und wenigstens eine Bootsfahrt gehören zwingend dazu. Und so schippert Escamillo im dritten Akt per Boot ins Schmuggler-Lager. Die Spielkarten zwischen Carmens Händen mutieren hier zu der (laut Libretto) wilden Gebirgsschlucht, in der Akrobaten herumklettern wie die Liliputaner auf Gulliver.

So spektakulär, so erwartbar. Spannend wird es aber eigentlich erst, wenn sich der Augenschmaus mit einer Inszenierungs-Idee verbindet. Davon allerdings ist wenig zu erkennen. Chöre singen, Darsteller werden bewegt, Überraschungen bleiben weitgehend aus. Davon ausnehmen muss man allerdings den Schluss, in dem José Carmen nicht ersticht, sondern im See ertränkt. Carmen muss dann mehrere Minuten als Leiche im Wasser ausharren. Und weil José (Daniel Johansson) schon im Laufe des Stücks zu einer immer verzweifelter hinter Carmen herstolpernden Figur wird, ist dieser Moment nicht nur spektakulär, sondern auch dramaturgisch schlüssig.

Die Schlüssigkeit ist nämlich das eigentliche Problem dieses Abends. Weil die Seebühnen-Produktionen ohne Pause durchgespielt werden, müssen die Stücke stets auf zwei Stunden Spielzeit gekürzt werden. In diesem Fall fielen etliche Dialoge dem Rotstift zum Opfer. Sicherlich, Dialoge und Rezitative machen auf einer Event-Bühne wenig her. So allerdings geht auch viel Bindemittel zwischen den einzelnen Nummern verloren, sodass sich manche inhaltliche Entwicklung nicht mehr so recht erschließen will.

Und die Musik? Auch hier eine gemischte Bilanz. Paolo Carignani, der die Wiener Symphoniker aus dem Festspielhaus leitet, sorgt für den nötigen Schwung der weithin bekannten Ohrwürmer. Gaëlle Arquez hat einen tollen Carmen-Mezzo, leider aber keinerlei laszive Carmen-Ausstrahlung. Für ihre seltsame Kostümierung mit zwei ungleich langen Hosenbeinen kann sie allerdings nichts (Kostüme: Anja Vang Kragh). Bei Daniel Johansson ist es eher umgekehrt: Im Laufe des Stücks spielt er sich wunderbar in seine Rolle als eifersüchtiger Liebhaber José ein, muss aber stimmlich stark forcieren.

Scott Hendricks Escamillo grenzt an eine Parodie. So rollenkonform großspurig er auftritt, so sehr kämpft er mit der Intonation. Elena Tsallagovas Micaëla ist in jeder Hinsicht untadelig. Sie ist von den Sängern und Sängerinnen übrigens die einzige, die hochklettern muss auf Carmens Daumen. In schwindelnder Höhe singt sie im dritten Akt ihre große Arie. Dort wirkt sie einsam und verloren. Und das muss an dieser Stelle auch so sein. Was immerhin im Kleinen zeigt, dass sich auch auf einer großen Seebühne schlüssige Inszenierungs-Ideen entwickeln lassen.

Weitere Aufführungen gibt es bis zum 20. August 2017 täglich außer montags. Alle Vorstellungen sind bereits ausverkauft – aber: Im Sommer 2018 wird die Produktion wieder aufgenommen. Weitere Informationen auf www.bregenzerfestspiele.com