Herr Kinder, was machen Schriftsteller so in Zeiten von Corona?

Vermutlich schreiben oder am Schreiben zweifeln, Kritiker verfluchen, Leser ersehnen und den erwarteten Lese-Boom. Und grübeln, wovon sie leben sollen in Zeiten, wo Auftritte abgesagt werden müssen. Nur die wenigsten werden sich anstecken wollen, um Erfahrungen zu sammeln, aus denen Romane werden könnten.

Sie gehören zur Risikogruppe. Und Sie haben eine Krankengeschichte, wie der Leser Ihres autobiografisch grundierten Buchs „Der Weg allen Fleisches“ (von 2014) entnehmen kann. Steigt da die Angst?

Durchaus. Ich bin alt, heftig vorerkrankt, somit fällig, und hoffe dennoch.

Aufgrund Ihrer Erkrankungen mussten Sie mehrfach um Ihr Leben fürchten. Was ist jetzt anders?

Dass die Überlebensmöglichkeit nicht nur für mich klar abgesteckt ist durch Art und Zeitraum der viralen Bedrohung. Und dass, wenn es nötig wird, ich im Krankenhaus nicht wie gewohnt umsorgt, sondern unter üblen Bedingungen beatmet werden könnte, falls ich nicht vorher schon ‚selektiert‘ würde (Triage).

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Knapp ein Viertel der Deutschen sind älter als 65 Jahre alt. Glauben Sie an die Solidarität der Gesellschaft mit den Alten, die die Politik fast täglich beschwört? Noch sind die Krankenhäuser ja nicht überfüllt…

Die Corona-Parties zeigen, dass die Solidarität mit den Alten geheuchelt sein könnte und also beschworen werden muss. Sind die Alten doch ökonomisch und medizinisch eher eine Last. Sie kapieren Automaten nicht und gruschteln an der Supermarktkasse im Geldbeutel. In den individuellen Beziehungen (Familie) möge mehr Solidarität sein. Gibt es aber eine sichere und allgemeine Antwort auf die Frage: Wofür brauchen wir die Alten?

Wird unsere Gesellschaft nach Ende der Pandemie eine andere sein wird?

Der italienische Schriftsteller Antonio Scurati meinte, das Virus sei auch eine Feuerprobe für Europa, das sich aus den Trümmern dieser Tragödie entweder als politische Entität erhebt oder aber als bürokratisches und wirtschaftliches Gebilde zerbricht. „Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.“ Und wären wir „in den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat“ („Der Froschkönig“), würde ich wünschen, dass ein pathetisches Entweder-Oder, die Alternative „erheben“ oder „zerbrechen“ nicht unausweichlich sind, dass nichts ohne sein Gegenteil wahr sein möge, dass schließlich Europa bleibt, lernt, sich reformiert und den Visegrád-Staaten die Leviten lesen kann.

Jetzt wird wieder – wie seinerzeit bei Ausbruch von Aids und Ebola – laut und leise darüber geredet, dass Corona eine Art göttliche Strafe für unseren Hedonismus und Egoismus sei. Was ist davon zu halten?

„Denn nicht Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, sondern der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde.“ (Feuerbach, 1846) Corona-Parties, Diebstahl von Hygienematerial, Hamsterkäufe etc. Gott anzulasten, ist demnach ungerecht. Und noch ein Wunsch: Klatschen vom Balkon und Singen auf der Straße könnten helfen. Beides ist aber von Gott nicht verbürgt.

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Albert Camus hat 1947 einen Roman über die „Pest“ verfasst, wobei der Werkhintergrund seine Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs war. Können Sie sich die Corona-Pandemie – hundert Jahre nach der „Spanischen Grippe“ – als Erzählstoff vorstellen?

Gewiss, sehr gut. Und Spielfilme. Kunst überhaupt. Von mehr als 60 Millionen Opfer des Zweiten Weltkriegs wurde auch erzählt. „Unterkranken“ wäre ein brauchbarer Titel für einen Corona-Roman; oder auch „Hundert Jahre Virologie“.

Ländergrenzen werden dicht gemacht. Das öffentliche Leben erliegt. Da heißt es kühlen Kopf bewahren. Aber das gibt auch viel Zeit zum Lesen. Welches Buch lesen Sie?

„Fliegen“ von Albrecht Selge. „Vivaldi“ von Peter Schneider. Von Peter Hahnes „Schluss mit lustig!“ nur das Deckblatt. Hölderlins „Die Hälfte des Lebens“ will ich auswendig lernen.