Darf man über Nazis lachen? Über die echten? Von Charlie Chaplin heißt es, dass ihn starke Zweifel bezüglich seines 1940 entstandenen Films „Der große Diktator“ plagten, nachdem er die Wahrheit über die Konzentrationslager erfahren hatte – sechs Millionen Juden starben dort.
In Ernst Lubitschs Filmkomödie „Sein oder Nichtsein“ von 1942, die in Polen vor und nach der Besetzung durch die Nazis spielt, läuft ein fülliger SS-Gruppenführer durch die Kulissen, dessen Spitzname „Konzentrationslager-Erhardt“ lautet. Erhardt lacht sich halbtot, als er das aus dem Mund des Nazi-Überläufers Silewski hört. Darf man darüber lachen?
„Hamlet“ statt antifaschistische Komödie
Ja. Nein. Lubitsch erzählt die Geschichte einer Warschauer Theatertruppe, die eine antifaschistische Komödie plant. Da sich die Regierung nicht mit Hitlers Regime anlegen will, wird die Inszenierung untersagt. Stattdessen kommt Shakespeares „Hamlet“ auf den Spielplan.
Für Josef Tura, den eitlen Kopf des Polski-Theaters, ist das kein Problem. Der Prinz von Dänemark ist seine Paraderolle. Turas Frau Maria macht gute Miene zu den Allüren ihres Mannes, hinter seinem Rücken beginnt das Superweib eine Affäre mit dem Fliegerleutnant Sobinsky.
Als 1939 der Krieg beginnt, verändert sich das Leben des Ensembles. Das Theater stellt den Betrieb ein, Hunger und Kälte bestimmen den Alltag. Der politische Widerstand, der im Land geblieben ist, formiert sich aber. Als Sobinsky von der Front zurückkehrt und vom Überläufer Silewski berichtet, der über eine Namensliste der Widerstandkämpfer verfügen soll, bekennt die Schauspielertruppe Farbe.
Sie inszeniert eine Farce, in der sie die deutschen Besatzer an der Nase herumführen. Das geht so weit, dass sie in Nazi-Uniformen schlüpfen und in einem aberwitzigen Verwechslungsspiel selbst den Hitler-Darsteller des zensierten antifaschistischen Stücks zu neuem Leben erwecken.

Die Filmkomödie, die heute Kultstatus hat, kam bei ihrer Uraufführung in den USA nicht gut an. „Man hat den merkwürdigen Eindruck, Mr. Lubitsch sei Nero, der spielt und singt, während Rom brennt“, urteilten Kritiker damals.
Der Emigrant (und Jude) Lubitsch beteuerte später, dass es nicht seine Absicht gewesen sei, die Polen zu verspotten. Er habe „lediglich das Schauspielermilieu verhöhnen (wollen), aber vor allem die Sitten und Gebräuche der Nazi-Wahnsinnigen und des Nazi-Geistes zeigen, der die deutsche Gesellschaft in seiner Gewalt hatte“. Er wollte hohe Kunst machen.
Die Kritiker nennen als „Naziklamauk„
Warum aber der britische Dramatiker Nick Whitby 2008 auf der Basis des Films ein gleichnamiges Bühnenstück schreiben musste, lässt sich nur schwer erklären. Bei der New Yorker Uraufführung fiel seine Version von „Sein oder Nichtsein“ durch. Auch die deutsche Erstaufführung in Berlin kam nicht gut an: „Naziklamauk“ lautete ein Fazit.

Auch den Planern des Theaters St. Gallen muss die Frage gestellt werden, warum sie Whitbys Stück ins Programm aufgenommen haben. Es wurde gelacht, ja, und am Ende gejubelt. Hat unseren Nachbarn Spaß gemacht. Die Inszenierung wird ein Quotenbringer werden.
Das Problem des Stücks und der Inszenierung von Barbara-David Brüesch ist, dass Lubitschs Film nicht fortgeschrieben wurde. Das Chaplin-Dilemma. Als die USA 1941 in den Zweiten Weltkrieg eintraten, war der Film abgedreht. Angesichts der Opfer des Kriegs hätte auch bei Lubitsch der Spaß aufgehört.
Whitbys Stück hat ein Happy End. Die naseweisen Schauspieler des Polski-Theaters entkommen frisch, fromm, fröhlich dem Kampfgeschehen. Nach ihnen die Sintflut. Nicht einmal auf dieses Glückshormon für den Zuschauer mochte die Regisseurin verzichten.
Brüesch hilft sich aus dieser Not am Schluss des Abends mit dem alten Schellack-Schlager „Irgendwo auf der Welt gibt‘s ein kleines bisschen Glück“ – eine Anspielung auf das heutige Flüchtlingsdrama. Reicht das?
Es gibt auch Gutes an diesem Abend
Nicht alles ist schlecht an diesem Theater im Theater. Dass die Türen in dieser Verwechslungs-, Agenten- und Eifersuchtskomödie, in der – wider die Realität – die Deppen immer die Nazis sind, oft auf und zufliegen, gehört zum Boulevard. Doch Schwamm drüber, auch über das Bühnenbild von Damian Hitz, das sich in Realismus versucht.
Der Akteur des Abends ist Matthias Albold in der wahnsinnigen Doppelrolle des jüdischen Schauspielers Grünberg und des „Konzentrationslager-Erhardt“. Albold kann Slapstick, er kann bitterenst. Sein Bühnentraum: die Rolle des Shylock in Shakespeares „Kaufmann von Venedig“.

Er rezitiert diese Sätze, die ans Herz gehen: „Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer als ein Christ?“ Keiner lacht. Diese Insel aus Ernst gehört auch zu diesem Abend.
Albolds Rollen sind Nebenrollen. Maria und Josef Tura sind die Headliner. Diana Dengler und Bruno Riedl machen das routiniert. Ohne Fehl und Tadel, aber vorhersehbar – das liegt am Stück und der Regiearbeit ohne Vision. Geschichtsbewusstes Theater geht anders.
Weitere Aufführungen von „Sein oder Nichtsein“ am Stadttheater St. Gallen gibt es am 1., 13., 25., 27. und 30. Oktober 2019. Informationen zu dem Stück finden Sie hier.