Herr Scheck, wann hat Literatur zuletzt eine Debatte außerhalb des Feuilletons ausgelöst?
Ich glaube, dass alle großen Diskurse der vergangenen 20 oder 30 Jahre letzten Endes von der Literatur angestoßene Diskurse waren. Denken wir an die Auseinandersetzung um Günter Grass‘ „Was gesagt werden muss“, oder an das Gedicht von Jan Böhmermann über Erdogan. Denken wir an die Aufregung um das Gedicht „Artikel 3 (3)“ von Alfred Andersch in den 70er-Jahren oder an Botho Strauß, an die Auseinandersetzung mit rechter Intelligenz in Deutschland. Was die Fähigkeit der Literatur zur Intervention im gesamtgesellschaftlichen Diskurs angeht, ist mir nicht bange. Literatur ist auch heute ein Frühwarnsystem. Es gibt die seismologische Fähigkeit von Dichtern, einen Zeitgeist auf den Punkt zu bringen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat im vergangenen Jahr zwei Bilder von Emil Nolde in ihrem Büro abgehängt. Der Grund sind die Werte, denen sich der Künstler zur Zeit des Nationalsozialismus verschrieben hatte. Auch Autoren geraten aufgrund fragwürdiger Ideale oder politischen Ideen in die Kritik. Wie gehen Sie damit um?
Ich habe aus der Literatur gelernt, dass wir Ambiguitäten aushalten müssen. Das ist vielleicht das Wichtigste, was uns Literatur beibringen kann. Dass wir aufhören, in schwarz und weiß zu denken, dass wir die tausend Graustufen wahrnehmen. Dass wir realisieren, dass man ein glühender Nazi und ein guter Künstler sein kann, wie Emil Nolde beispielsweise. Dass man Antisemit sein kann wie der späte Theodor Fontane und gleichzeitig mit dem „Stechlin“ Weltliteratur schreiben kann. Mao Tse-tung war nach allem, was ich weiß, ein guter Dichter – und verantwortlich für Millionen Tote. Wer das nicht aushält, wer dem Kinderglauben anhängt, dass nur reine Seelen große Kunst hervorbringen können, der ist, glaube ich, für die Kunst verloren.
Braucht es keine Konsequenzen, wenn eine Autorin oder ein Künstler in der Nähe von demokratiefeindlichen Idealen steht?
In einer politischen Debatte unbedingt. Nur möchte ich davor warnen, die politische Konsequenz auf den Raum der Ästhetik zu übertragen. Caravaggio ist ein großer Maler und ein Mörder, selbst unter günstigster juristischer Beurteilung vermutlich ein Totschläger. Ich bin nicht dafür, dass man die Werke von Caravaggio aus den Museen abhängt. Die Arbeit an meinem Kanon hat mich gelehrt, dass die Literaturgeschichte eine Ansammlung von Gaunern, Verbrechern, Unmenschen, Psychopathen, Hurenböcken und Schwindlern ist, Menschen, die ihren Eltern, Lebenspartnern und Kindern Unsägliches angetan und dennoch Weltliteratur geschrieben haben. Ich habe keine Ahnung, mit wem Sappho ins Bett ging und wie oft – es interessiert mich auch nicht sonderlich. Mich interessieren die Texte. Es gibt einen schönen Satz von Arno Schmidt in der Art: Mir ist egal, ob ein Dichter die Jungfrau Maria oder Stalin besingt, Hauptsache, es wird gut gesungen.

Heißt das also: zum Teufel mit der Political Correctness?
In der Literatur möchte ich darum bitten. In der Arena der Politik würde ich übrigens gar nicht sagen, dass ich etwas gegen politische Korrektheit habe. Die Emanzipationsbewegungen der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte haben dazu geführt, dass wir die Hälfte der Menschheit neu entdeckt haben, in dem wir realisierten: Es gibt auch Frauen, und es wäre eine gute Idee, wenn wir Frauen Wahlrecht einräumen, Berufsfreiheit und und und. Dann haben wir realisiert, dass Menschen anderer Hautfarbe, anderer Religion ebenfalls die gleichen Rechte haben sollten. Ich halte die Erklärung der Menschenrechte für eine wunderbare Sache. Wenn wir das unter politischer Korrektheit verstehen, dann habe ich dagegen gar nichts.
Wann stört Sie Political Correctness?
Wenn wir darunter verstehen, dass man aus den Klassikern der Kinder- und Jugendbuchliteratur etwa von Astrid Lindgren oder Otfried Preußler Wörter entfernt, die uns in heutigen Ohren aus guten Gründen anstößig klingen. Ich rede jetzt von Begriffen wie „Zigeuner“ oder „Neger“, die nur Tölpel heute noch verwenden, die keinerlei sprachliche Sensitivität besitzen. Das sind aber Begriffe, die in vergangenen Zeiten normal und alltäglich waren. Da es sich bei den Werken Lindgrens und Preußlers um Kunstwerke handelt, dürfen wir nicht einfach Wörter schwärzen oder durch weniger anstößige ersetzen – das läuft auf das Gleiche hinaus, wie wenn man mit einem Farbeimer ins Museum stiefelt und Genitalien übermalt. Das ist barbarisch.
Was schlagen Sie stattdessen vor?
Entweder halten wir diese Texte aus, lassen sie in ihrer historischen Gestalt, machen vielleicht eine Anmerkung oder ein Nachwort, dann können wir Astrid Lindgren und Otfried Preußler weiterlesen. Oder wir halten es nicht aus, dass da „Neger“ oder „Zigeuner“ steht: Dann müssen wir uns Kinderbücher und Erwachsenenromane schreiben, die unseren Werten entsprechen und leider Abschied nehmen von Preußler und Lindgren. Was aber nicht geht, ist, wie das Orwellsche Wahrheitsministerium permanent die Vergangenheit umzuschreiben. Das ist in der Kunst in meinen Augen vollkommener Irrsinn.
Kontrovers diskutiert wurde im vergangenen Jahr die Verleihung des Literaturnobelpreises an den österreichischen Schriftsteller Peter Handke. Sie begrüßen die Auszeichnung. Warum?
Sein literarisches Werk rechtfertigt diese Auszeichnung – denken Sie nur an „Wunschloses Unglück“, die „Publikumsbeschimpfung“ oder „Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten“. Handke hat sich in meinen Augen einer schweren politischen Verfehlung zuschulden kommen lassen, mit seiner unsäglichen Haltung im Jugoslawienkrieg. Aber ich freue mich darüber, dass die Akademie erwachsen genug und in Ambiguitäten trainiert ist, um zu erkennen: Man kann Blödsinn über Jugoslawien reden und schreiben und dennoch Weltliteratur produzieren.
Sie haben kürzlich einen Kanon der „100 wichtigsten Werke der Weltliteratur“ vorgelegt und verweisen im Vorwort auf den überzeitlichen Anspruch jedes Kanons. Dem entgegengestellt: Was sind Bücher, die Sie im Moment als zeitgemäß empfinden?
Ich finde, dass Saša Stanišic zeitgenössische Literatur schreibt. Auch Judith Schalansky hat mit „Verzeichnis einiger Verluste“ ein sehr zeitgemäßes Buch geschrieben, das mich beeindruckt hat. Daniel Kehlmanns „Till“ würde ich noch nennen. Und ich halte Christoph Ransmayr, insbesondere mit seinem historischen Roman „Cox“ für den bedeutendsten Romancier der Gegenwart.