Da werden wir uns wohl noch die Augen reiben. In zehn Jahren wird das Betonmonster namens Schänzlebrücke fast klein aussehen, inmitten einer vollkommen veränderten Umgebung. Bis zu 35 Meter hohe Blöcke werden im künftigen Europaquartier die Brücke überragen, auf der anderen Seite der Turm des Asisi-Panoramas eine neue Landmarke an der Stadteinfahrt sein. Wenn alles so kommt, wie es soeben Baubürgermeister Karl Langensteiner-Schönborn vorgestellt hat, sieht Konstanz an einem prominenten Ort sehr, sehr anders aus als heute. Und man wird sich fragen: Haben wir das eigentlich so gewollt?
Wenige Kilometer weiter nordwestlich vollzieht sich ähnliches. Die Felder am Hafner-Hügel werden der größten Stadterweiterung in jüngerer Konstanzer Geschichte gewichen sein. 20 Meter hohe Gebäude werden auch dort das Bild prägen – neben kleineren Einheiten und viel Grün. Denn wer in die Höhe baut, kann sich mehr Freiraum leisten. Alles, was am Hafner entsteht, wird in entscheidenden Punkten anders sein als das bisher in Konstanz Bekannte. Und auch hier wird man sich fragen: Ist das gut so?
Das Lebensgefühl ändert sich schon jetzt
Allein der Blick auf diese beiden besonderen Schauplätze zeigt, was in Konstanz gerade vor sich geht: die Entwicklung von der großen Kleinstadt zur kleinen Großstadt. Auch wenn niemand genau sagen kann, wann die 100.000-Einwohner-Schallmauer tatsächlich durchbrochen wird – das Lebensgefühl ändert sich schon jetzt. Die Stadt wird vielfältiger, aber auch anonymer. Sie wird bunter, aber sich selbst auch fremder. Sie wird aufregender, aber auch anstrengender. Solche und ähnliche Wahrnehmungen äußern viele, die schon lange in Konstanz leben. Und sie wissen oder spüren zumindest: Dieser Weg ist nicht mehr umkehrbar.

Diese vielleicht größte Transformation der letzten Jahrhunderte vollzieht Konstanz so etwa innerhalb einer Generation. Wann genau sie begonnen hat, darüber wird man rückblickend noch lange debattieren (in einem immerhin wird sich Konstanz gewiss treu bleiben). Vielleicht wird man die Lago-Eröffnung im Jahr 2002 als Wendepunkt wahrnehmen. Oder die große Veränderung am Seerhein zwischen Fahrrad- und Schänzlebrücke – erinnert sich noch jemand an Volker Fouquets „urbane Kante“? Oder die Veränderung Petershausens, ausgehend vom einstigen Güterbahnhof?
Während also immer wieder – und mit Blick auf einzelne Vorhaben eigentlich fast immer vollkommen zurecht – beklagt wird, dass in Konstanz alles so schrecklich langsam geht, gibt es zugleich auch eine Entwicklung, die durchaus dynamisch ist. Wo Dynamik ist, ist Eigendynamik meist nicht weit weg, und genau diese Selbstveränderungskräfte lassen sich derzeit an vielen Punkten innerhalb der Stadtgesellschaft ausmachen.
Bürger fordern mehr Mitsprache – oder ziehen sich ins Private zurück
Die Forderungen aus Wollmatingen nach mehr Autonomie und Mitsprache ist ein Teil dieser Gegenbewegung. Der, durch Corona weiter beförderte, Rückzug ins Kleine, Private ein anderer. Auch die veränderte politische Kultur im Gemeinderat lässt sich nicht von ihrem Umfeld und Resonanzboden lösen: Wo früher ganz viel Mitte war, ist die Bandbreite größer und der Disput anstrengender geworden. Das ist auch gut so, denn mit den politischen Mitteln der Kleinstadt lässt sich keine Großstadt gestalten.
Das Gefühl von Machtlosigkeit ist gefährlich fürs Gemeinwesen
Die Antwort auf diese Veränderung müssen aber nicht nur die Bürgervertretung und die Verwaltungsspitze geben, sondern auch die Bürgerschaft selbst. Veränderungen einfach so über sich ergehen zu lassen, gibt Menschen das Gefühl von Machtlosigkeit. Das ist für eine Stadtgesellschaft gefährlich, denn es macht sie anfällig für Einflüsterungen sowie Verschwörungserzählungen, und es zerstört den Kitt, der Konstanz doch in weiten Teilen bisher ganz gut zusammengehalten hat. Dass dieser Bedarf nun ausgerechnet zu einer Zeit erwächst, in denen sich diese Stadt vieles nicht mehr wird leisten können, macht die Aufgabe umso anspruchsvoller. Aber vor der Herausforderung wegzulaufen, ist sicher die schlechteste Option.
Es ist also gut, sich die Realitäten zu vergegenwärtigen. Wenn Konstanz langsam Großstadt wird, braucht es auch entsprechende Infrastruktur. Das große Parkhaus gerade für Besucher von auswärts ist eine richtige Antwort darauf, denn es ermöglicht eine Entzerrung der Verkehrsströme. Ein zeitgemäßes Kulturangebot gehört ebenso dazu wie eine soziale Infrastruktur von Kitas bis zu Pflegeheimen, die möglichst niemandem das Gefühl gibt, zurückgelassen zu werden. Vor allem aber braucht Konstanz ausreichend Wohnraum und viele sichere Arbeitsplätze. Wachstum finanziert sich nicht von selbst, zumal wenn ein immer weiter ausufernder öffentlicher Sektor bezahlt werden will.
Hört auf die Skeptiker, ihre Zweifel und Ängste sind wichtig
Und was ist mit denen, die sagen, dass sie sich das alles nicht so vorgestellt haben? Die mehr oder weniger unverhohlen verkünden, das Boot sei voll, weiteres Wachstum nicht erwünscht? Sie als Blockierer abzutun und damit in ein gesellschaftliches Abseits zu stellen, ist ebenso unfreundlich wie unklug. Es braucht auch die mahnenden Stimmen, um die Transformation zu gestalten, wenn Konstanz seinen Charakter nicht ganz verlieren soll. Man sollte sich nur um Klaren darüber sein, dass erstens der von außen bestehende Druck auf Konstanz von innen kaum gesteuert werden kann und dass zweitens auf Stillstand schnell Rückschritt folgt. Wohin das führt, lässt sich in den schrumpfenden Städten in Ostdeutschland besichtigen.
Die gemütliche Kleinstadt von einst wird Konstanz nie mehr sein
Wenn Kinder groß werden, haben sie oft Wachstumsschmerzen. So etwas kann auch eine Stadtgesellschaft erleben. In Konstanz zeigt sich das städtebaulich an den Beispielen Europaquartier und Hafner sowie sozial im Wechselspiel zwischen gesellschaftlichen Flieh- und Bindungskräften. Aber wie sähe die Alternative zum Erwachsenwerden aus? Der ewig kindliche Peter Pan bleibt eine Märchenfigur und Konstanz als gemütliche Kleinstadt ein Wunschbild. Ob es uns gefällt oder nicht, einen Umgang damit müssen wir lernen. Am besten alle zusammen.