Sigmaringen, mais oui, das ist ein eigenes Kapitel der französischen Geschichte, wenn auch ein seltsames. „Für Frankreich ist Sigmaringen oft ein ‚Phantom‘ oder ‚Spuk‘“, sagt Schriftstellerin Gabriele Loges, die viele Gespräche mit Zeitzeugen literarisch verarbeitet hat. Auch bei anerkannten Historikern wie Jean-Paul Cointet oder Henry Rousso finden sich immer wieder metaphorische Anleihen an Gespenster- oder Gruselmärchen, wenn es um diese Episode geht.
Was ja nachvollziehbar ist: Es gibt das Bilderbuchschloss als tolle Kulisse. Und es gibt diese unangenehme Vichy-Regierung unter Marschall Philippe Pétain, die mit den Nazis gemeinsame Sache gemacht hatte. Sie war nämlich vor 80 Jahren dorthin verbracht worden, gegen ihren Willen, handlungsunfähig, aber nicht ganz tot, und etliche ihrer Anhänger waren aus Frankreich samt Familien hierher geflüchtet, nachdem die Alliierten in der Normandie gelandet waren: Rund 2000 Menschen, in einem Ort, der vor Kriegsbeginn keine 7000 Seelen gezählt hatte. Rund 2000 Menschen, die dann auf einmal verschwunden sind, am 22. April 1945, aus Angst vor Rache.
„Stundenlang hörte man das Jammern“
An jenem Sonntag nämlich wird die Stadt kampflos an die französischen Truppen übergeben, die ins Ortszentrum vorstoßen. Dort treffen sie noch ein paar der Kollaborateure an, namenlose Mitläufer, die schon vor Angst fast gestorben sein müssen. Und die dann auch wirklich abgeknallt werden, teilweise offenbar so lustlos, dass sie die Erschießung überleben: „Noch stundenlang hörte man das Jammern eines Schwerverletzten“, heißt es in der Chronik der Lehrerin Klara Steidle.
Berichte über Racheakte an der einheimischen Bevölkerung gibt es aus Sigmaringen dagegen kaum. „Das war hier nicht Freudenstadt“, sagt Loges. Dort hatten die französischen Soldaten Vergeltung geübt für das Massaker von Oradour. Schon in den 1950er-Jahren war auch in Frankreich über diese Exzesse als Verbrechen berichtet worden.
„Ich habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muss“, hat Thomas Mann anlässlich des Bombardements seiner Heimatstadt Lübeck per Rundfunkansprache mitgeteilt: Rache gehört zum Krieg. Und es kann sinnvoll sein, sich Sigmaringens Moment in der Geschichte Frankreichs – es wird, sofern man den Vichy-Staat für legitim hält, ein paar Monate zu seiner Hauptstadt – als Rachedrama vorzustellen.
Oder besser noch, weil es so viele Stränge gibt und lose Enden, ein Knäuel aus Rache-Dynamiken. Die finden wahrscheinlich für keinen und nirgends zu einem befriedigenden Schluss. Aber bedeutet nicht jede Spukgeschichte, dass hier ein Bedürfnis nach Sühne ungestillt blieb?
Schon die Ortswahl lässt sich als subtile Demütigung deuten. Denn sie ist viel zu aufwendig, um ein Zufall zu sein.
Nach dem Hitler-Attentat hatten die Nazis das Schloss Wilflingen, 15 Kilometer östlich von Sigmaringen, räumen lassen und beschlagnahmt – um sich an den Stauffenbergs zu rächen. Von Sigmaringen dorthin verpflanzt wird dann am 7. September die Hohenzollernfamilie, als Vergeltung dafür, dass sich der Cousin des Schlossherrn Friedrich Viktor, Mihai I., in Rumänien im August 1944 den Alliierten angeschlossen hat. Und am 8. September trifft der Tross mit Pétain am Fuß der Schwäbischen Alb ein – ein logistisch aufwendiges Karussell, mitten im Krieg. Warum macht man das?
Die Krieg 1870/71 spielte eine Rolle
Wohl weil mit dem Namen Sigmaringen der Beginn des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 verbunden ist. Auslöser war, dass die Württemberger Hohenzollern sich um den spanischen Königsthron bewarben, was Frankreich als Affront wertete und… naja, wie es halt so ist. Frankreichs verheerende Niederlage damals, la débâcle, war jedenfalls für Pétain Auslöser seiner Berufswahl gewesen. Sein Ziel: das wiederherzustellen, was er für die damals befleckte Ehre Frankreichs hält.
Und seinen Wunsch hatte er dann, auch in den Augen der Nation, mit dem Sieg bei Verdun erfüllt, in einer der grauenvollsten Schlachten des Ersten Weltkriegs. Ihn nun in Sigmaringen einzuquartieren, das muss ihm vermitteln, dass er jetzt, im Alter von 88 Jahren, wieder mit leeren Händen dasteht. Dass sein Ruhm nicht mehr glänzt. Dass er sich seinem alten Feind ausgeliefert hat, indem er mit ihm paktiert.

Dieser Pakt bedeutet für den französischen Widerstand Verrat. Dass die Nazis Pétain Ende August aus Vichy regelrecht entführen, dient seiner Rettung vor der Rache der Résistance, die im Sommer 1944 Oberhand gewinnt, in Frankreich: Dass ein verbündeter Staats-Chef eliminiert wird, dass man ihn nicht hat schützen können, das wäre ein Zeichen der Schwäche. Die Blöße wird man sich nicht geben. Nicht früher als nötig.
Auf dem Schloss und im Ort lebt nun ein unüberschaubares Tableau von Menschen zusammen, die vor allem durch Hass, Kränkungen und Intrigen miteinander verbunden sind, und durch die Angst vor Verfolgung: Der Schrecken fährt den Franko-Nazis in die Glieder, als sie im November von der Hinrichtung eines ihrer Mitstreiter in Paris erfahren, der doch bloß ein Propagandist gewesen war. Dass einer ihrer Würdenträger, für eine Operation in eine Spezialklinik in Ostpreußen verbracht, bald nach dem Eingriff stirbt, sorgt für Beklemmung vis-à-vis ihrer deutschen Bewacher.
Senegalesische Soldaten als Horrorfiguren
Panik macht sich breit angesichts der Erfolge der Premiere Armée. Der rassistische Schriftsteller Céline, vom Stürmer für seinen Judenhass gefeiert, beschwört vor allem deren senegalesische Soldaten als Horrorfiguren. Kopfabschneider nennt er sie und Menschenfresser in seinem Roman „Von einem Schloss zum anderen“, der sich liest, wie ein literarischer Racheakt gegen den ungeliebten Ort, der ihm Unterschlupf gewehrt hat, bei seiner Flucht vor den Befreiern.
Jeder hier verdächtigt jeden und hatte auch allen Grund dazu. Da ist zum Beispiel Pierre Laval, der Premierminister, der für die Deutschen die Deportation der Juden aus Frankreich organisiert und dabei dafür sorgt, dass auch die Kinder mit in die Viehwaggons gepfercht werden, um die Familien nicht zu trennen, ist das nicht human? Dieser Laval jedenfalls verabscheut Pétain.
Laval nämlich ist Antimilitarist, ein Politiker aus der pazifistischen Schule Aristide Briands, eher sozialliberal, der Anfang der 1930er weltweit Achtung erfährt für seine diplomatischen Erfolge.
Gnade für Pétain
Dass Pétain ihn 1940 abgesetzt und eine kurze Zeit sogar eingesperrt hat, kann er ihm nie verzeihen. So wie dieser ihm auf ewig übel nehmen wird, dass Hitler ihn 1942 gezwungen hat, Laval wieder zurückzuholen, ins Amt: Er wird es ihm heimzahlen, als er 1945 in Paris vor Gericht steht – und ihn versuchen als eigentlichen Urheber der Kollaboration darzustellen, als Hauptschuldigen. Laval wiederum rächt sich, indem er den Kronzeugen gegen Pétain spielt, und dessen Zusammenarbeit mit den Nazis als Neigungstat kenntlich macht. Am Ende werden beide zum Tode verurteilt.
Pétain indes wird begnadigt, und zwar nicht von Charles de Gaulle, wie der Romanist Klünemann klarstellt. „Das Gericht hat das Urteil umgehend selbst revidiert“, so der Professor, der mit Studierenden der PH Ludwigsburg Konzepte entwickelt hat, um sachlich und vor Ort an die Vichy-Episode von Sigmaringen zu erinnern. Denn das ist das Gegenteil von Rache. Sachlich zu erinnern bedeutet, die bösen Geister zu bannen.