Hat dieser Schriftsteller hellseherische Fähigkeiten? Seinen neuen Roman „Briefe von morgen, die wir gern gestern schon gelesen hätten“ beginnt Timur Vermes mit einem Schreiben an Friedrich Merz. Es ist noch Februar 2024 – es schreibt da die Romanfigur Timur Vermes, versehen mit der Bitte, den Brief doch erst zwei oder drei Jahre nach dem Zeitpunkt zu lesen, an dem die AfD mithilfe der CDU an die Macht gelangt ist.
Denn dann regiert sie mittlerweile allein, ist von den anderen Parteien auch nicht mehr viel zu hören, hat man als Unzuverlässiger ohnehin sehr viel mehr Zeit, weil man sich öffentlich besser nicht mehr äußert. Dieser Roman-Vermes schreibt also Merz: „Konnte man nicht wissen, dass die es so meinen, nur weil das Putin, Trump, Orbán und all die anderen genauso gemacht haben“. Ein literarischer Volltreffer hinein in die aktuelle Debatte.
Deutschland in naher Zukunft
Vermes legt seinen vierten Roman vor. Nach dem Sensationserfolg „Er ist wieder da“, „Die Hungrigen und die Satten“ und dem experimentellen Roman „U“ passt er sich formal damit dem Genre des Briefromans an, greift er inhaltlich auf Elemente der Science-Fiction zurück, spitzt er gesellschaftlich politische und technische Entwicklungen der Gegenwart dramatisch zu.
Das alles versieht Vermes mit der ihm eigenen Art von Humor und schafft das Panorama eines Deutschlands irgendwann in der näheren Zukunft, den späteren 20er und den frühen 30er Jahren des 21. Jahrhunderts. Man kann darüber lachen, gleichzeitig bekommt man aber auch Angst, wenn das tatsächlich die Zukunft wird.
Roboter im Pflegeheim
In den normalen Pflegeheimen arbeiten Roboter, wie man dem Brief einer Gunda Weber an ihre Haftpflichtversicherung entnehmen kann. Daran wäre nichts auszusetzen, wenn diese Roboter nicht ständig untätig herumstehen würden, weil sie wieder ein Update bekommen. Kein Wunder also, dass Gunda Weber im Heim bei ihrer Mutter irgendwann ausgeflippt ist und eines dieser Dinger mit einem Feuerlöscher lustvoll zerschlagen hat.
Im Brief leistet sie Buße und bittet die Haftpflicht, den Schaden zu übernehmen. Sie ist jetzt ja auch schlauer geworden. „Ich weiß ja jetzt auch, dass die Roboter da nichts dafür können, dass das eben die Schuld ist von den Angehörigen. Die da mit Tricks und Apps und so Betrügerprogrammen dafür sorgen, dass die Roboter immer ihre Eltern und Großeltern als Erste drannehmen.“
Taylor Swift als Kirchenoberhaupt
Mancher Brief liest sich wie ein Stück absurdes Theater, etwa wenn Django einem Bahnvorstand vorrechnet, dass der Konzern am besten fahren wird, wenn er sein Angebot um hundert Prozent drosselt. Dann fallen keine Kosten mehr an, man braucht kein Personal mehr. „Wer niemanden rumfährt, hat auch keine Unfälle, keine Verspätungen, keine Scherereien, muss weder irgendwelche Versprechungen machen noch sie einhalten.“
In einer dpa-Meldung ist im Nebensatz zu entnehmen, dass Taylor Swift Kirchenoberhaupt geworden ist und gemeinsam mit Ex-Außenminister Lawrow im Nahen Osten einen Frieden zu vermitteln sucht – erfolglos, weil der Krieg dort endlos fortgesetzt wird. Später erfahren wir von einem vermeintlichen Gott, dass er wie alle anderen zu einem Konzert von Taylor Swift möchte.
Alice Weidels Bedauern
Auch in der Vermes-Zukunft schreiben Eltern weiter Briefe an die Schulen, wenn sie glauben, dass ihre Kinder durch die Notengebung benachteiligt werden. Wie soll die arme Meghan dem Druck auch standhalten? Sie muss ja auch noch Strom aufladen, Updates aufspielen, den Akkustand überwachen, 19 Prozent, 27 Prozent, „dabei ist sie viel zu jung für Prozentrechnen“.
Es gibt noch mehr Überschwemmungen und die Anwohner im Brudatal schreien auf, weil sie nur noch 60 Prozent des Werts ihrer zerstörten Häuser vom Staat erstattet bekommen. Im Lernmaterial für Qualitätsjournalismus findet sich ein Interview von Jessy Wellmer mit Wladimir Putin, in dem dieser frei reden kann und nicht bevormundet wird.
Putin reicht darin Deutschland vieldeutig die Hand. „Wir haben gemeinsame Interessen, gemeinsame Nachbarn. Wir können mehr teilen als nur Sorgen.“ Während Alice Weidel im Tonfall des Bedauerns Attila Hildmann schreiben muss, dass sie nichts gegen seinen Strafbefehl tun kann, auch wenn sie seine Bemühungen während der Coronakrise anerkennt und auch einräumt, dass „die Verfolgungen durch das abgelöste Unrechtsregime“ nicht leicht zu ertragen gewesen seien.
Humor und Grusel reichen sich die Hand
Vermes springt, von Episode zu Episode, manche werden in der Folge auch wieder aufgenommen, zum Beispiel die entscheidende technische Neuerung I-Witness, intelligente Kontaktlinsen, die einen Schlüssel zu einer neuen Welt darstellen. Die Menschen sehen nur noch, was sie sich träumen, und nicht mehr, was ist. Die Realität spielt eine untergeordnete Rolle, sie ist ja auch immer schäbiger geworden.
Immer wieder tauchen Werbeanzeigen für diese Linsen auf. Weil so viele Menschen diese Linsen tragen, weiß man als Leser der Briefe am Ende natürlich nicht, worüber die Figuren tatsächlich schreiben, ob sie zuverlässige Berichterstatter sind. Humor und Grusel reichen sich die Hand.
Vermes zeigt sich wieder als virtuoser Erzähler, der verschiedene Tonfälle und Stimmlagen beherrscht. Seinen Humor lässt er an den Zukunftsvisionen zerschellen, lesenswert.
Timur Vermes: „Briefe von morgen, die wir gern gestern schon gelesen hätten“, Eichborn Verlag, 192 Seiten, 22 Euro.