„Ich bin als 20-Jährige mit dem festen Ziel nach Paris gegangenen, eine große Künstlerin zu werden“, erzählte Ulrike Ottinger im vergangenen Jahr bei der Entgegennahme des Hans-Thoma-Preises in Bernau.

An Selbstbewusstsein mangelte es der Künstlerin, die Pfingstmontag ihren 80. Geburtstag feiert, noch nie. Aber wahr ist auch, dass die Vielgeehrte, Ehrendoktorin der Concordia Universität Montreal, lange Zeit auf die Anerkennung ihres Schaffens warten musste.

Ottinger brach in den Sechzigern von ihrem Geburtsort Konstanz auf, an den die Wahl-Berlinerin immer wieder zurückkehrt, auch um im elterlichen Haus am Untersee zu arbeiten. Ihr bewegtes Leben in der französischen Kulturmetropole hat sie in ihrem persönlichsten Film „Paris Calligrammes“ (2020) dokumentiert – das Antiquariat „Librairie Calligrammes“ des jüdischen Exilanten Fritz Picard war Ausgangspunkt ihrer intellektuellen Prägung.

In Paris arbeitete Ottinger als freie Künstlerin und ließ sich von dem renommierten Grafiker Johnny Friedlaender in Radiertechniken ausbilden. Zeitgleich besuchte sie am Collège de France Vorlesungen von Claude Lévi-Strauss, Louis Althusser und Pierre Bourdieu.

Retrospektive in Baden-Baden

Bald folgten erste Ausstellungen. Einige der in den Pariser Jahren entstandenen Bilder, die der Pop-Art zugeordnet werden, sind zurzeit in Baden-Baden zu sehen. Die Staatliche Kunsthalle widmet dem „Cosmos Ottinger“ eine Retrospektive (bis 19. Juni).

Noch in Paris schrieb Ottinger ihr erstes Drehbuch: „Die mongolische Doppelschublade“. Ein Film kam zwar nicht zustande. Aber das Interesse an dem Land und seinen Bewohnern sollte sie in Filmen wie „Johanna d‘Arc of Mongolia“ (1989) und „Taiga“ (1992) dokumentieren. Mit acht Stunden war „Taiga“ ihr bis dahin längstes Werk, das mit zwölf Stunden Spieldauer von „Chamissos Schatten“ (2016) übertroffen wurde. Für diesen Film reiste die „Ethnologin“ Ottinger drei Monate auf den Spuren großer Forscher des 18. und 19. Jahrhunderts.

Eine Inspiration für ihre Beschäftigung mit der Mongolei waren die Bücher von Fritz Mühlenweg. Der Konstanzer Schriftsteller, mit dessen Familie das junge Mädchen Ulrike Ottinger befreundet war, war in den Zwanziger- und Dreißigerjahren in Asien unterwegs und schrieb darüber Abenteuerromane.

Ulrike Ottinger vor einem ihrer Werke bei einer Ausstellungseröffnung in Baden-Baden.
Ulrike Ottinger vor einem ihrer Werke bei einer Ausstellungseröffnung in Baden-Baden. | Bild: Kopitzki, Siegmund

Nach ihrer Rückkehr an den Bodensee 1969 gründete sie in Kooperation mit der Universität Konstanz den „filmclub visuell“, gleichzeitig eröffnete sie eine Galerie („Salzbüchsle“) und verband sie mit einer Kunstedition („galeriepress“).

Mit Tabea Blumenschein, die an einer privaten Konstanzer Kunstschule studiert hatte, drehte Ottinger ihren ersten Film: „Laokoon & Söhne“ (1972-73), die skurrile Verwandlungsgeschichte der Esmeralda del Rio. Zu dem Zeitpunkt lebte sie bereits in Berlin. Der Künstler Wolf Vostell, dessen Bilder sie in ihrer Galerie gezeigt hatte, lockte sie in die geteilte Stadt. Über ihn drehte Ottinger den Happening-Film „Berlin Fieber – Wolf Vostell“ (1973).

Weitere Filme folgten, bizarr-surrealistische Stücke, durch den weitgehenden Verzicht auf lineare Handlungsstränge gekennzeichnet. Publikum wie Kritik staunten. Die Arbeit am Set war für Ottinger ein „learning by doing“, wie sie einmal sagte.

Der Piratinnenfilm „Madame X – Eine absolute Herrscherin“ (1978), am Bodensee realisiert, in dem ihre Schaffenspartnerin Blumenschein die Hauptrolle spielte – auch im „Bildnis einer Trinkerin“ (1979) und/oder „Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse“ (1984) war sie dabei –, brachte ihr den ersten internationalen Erfolg ein. Ottinger hatte ihr Genre gefunden. Am Ende ihrer bisherigen Arbeit stehen knapp 30 Spiel- und Doku-Filme.

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Schon früh arbeitete Ottinger in ganz unterschiedlichen Medien und hat unterschiedliche Interessen verfolgt – von Malerei, über Fotografie, eben Film, aber auch Theater, Oper und selbst Performances voll überbordender Fantasie, oft grotesk, aber auch gesellschaftspolitisch engagiert und kritisch. Eine Rundumkünstlerin, die ihr eigenes Universum geschaffen hat und damit ihrer Zeit voraus war.

Ottinger nahm mit ihrer transdisziplinären Arbeitsweise die aktuellen Debatten etwa um Kolonialismus, Queerfeminismus, Gendergerechtigkeit und Sensibilisierung für Genderidentitäten vorweg. Als prototypisch dafür gilt ihr Film „Freak Orlando“ (1981), angelehnt an Virginia Woolfs Roman „Orlando. Die Geschichte eines Lebens“ (1928) und Todd Brownings Filmklassiker „Freaks“ (1932).

In fünf Episoden sieht man die Hauptfigur in fünf Epochen der Geschichte. Wie Woolfs Romanheld kann Ottingers Orlando sein Gesicht wechseln, nach dem Tod wiedergeboren werden und in verschiedenen Jahrhunderten leben, ohne zu altern. In diesem üppig ausgestatteten Film – als stürzender Säulenheiliger ist Eddie Constantin zu sehen – setzt sich Ottinger so souverän wie respektlos über Gattungsgrenzen und Erzählkonventionen hinweg.

Einen Ruf aus Hollywood hat sie dankend abgelehnt. Kommerzielles Kino ist nicht ihr Ding. Neben Ausstellungen, an denen sie arbeitet – Bilder der 2020 gestorbenen Tabea Blumenschein aus der Sammlung Ottinger werden im nächsten Monat in der Berlinischen Galerie präsentiert – plant sie den nächsten Film, eine Familiengeschichte, die in Indonesien spielt.

Daneben häufen sich die Einladungen zu Filmretrospektiven, zuletzt in Wien. Das Wort Ruhestand fehlt im Vokabular dieser großen Künstlerin. In diesem Sinne: Ad multos annos, Ulrike Ottinger.