Im Leben des Thomas Mann spiegelt sich die deutsche Geschichte eines ganzen Jahrhunderts. Am Bodensee wird diese Spiegelwirkung besonders deutlich. Nirgends sonst sind die Kontraste größer: hier das mondäne Leben der Kurgesellschaften, dort das Schicksal der Flüchtlinge auf dem Weg in die Schweiz, einerseits die historischen Gemäuer der Elite-Internate, andererseits der progressive Geist ihrer Pädagogen.
Die zahlreichen Bezüge des Schriftstellers und seiner Familie zum See hat vor Jahren der Konstanzer Autor Manfred Bosch erforscht („Die Manns am Bodensee“, Südverlag). Hier eine kleine Auswahl.
Überlingen
Im April 1922 reist Thomas Mann vom Starnberger See an den Bodensee – Verwandtschaftsbesuch. Doch so selbstverständlich, wie das scheint, ist es keineswegs. Denn mit seinem Bruder, der sich in Überlingen von einer Operation am Bauch erholt, hatte er eine jahrelange öffentliche Fehde geführt: Heinrichs republikanische Gesinnung war dabei noch das geringere Problem gewesen, schwerer wog aus Sicht von Thomas Mann die Inanspruchnahme der Literatur für solche politischen Ziele.

Heinrichs lebensbedrohliche Erkrankung – erst erlitt er einen Bronchialkatarrh mit Lungenkomplikationen, dann kam auch noch eine Entzündung von Bauchfell und Blinddarm hinzu – stimmt ihn jetzt nachdenklich. Als er in seinem Briefkasten eine Ansichtskarte vom Überlinger Badhotel findet, mit den „herzlichen Grüßen“ von Bruder und Schwägerin, ergreift er die Gelegenheit zur vorsichtigen Wiederannäherung.
Salem
Über seine Kinder urteilt dieser Vater bisweilen harsch. „Naiv und dickfellig“, sei Tochter Monika, „von meistens törichtem Benehmen.“ Auch seinem Sohn Golo traut Thomas Mann lange Zeit nur wenig zu. Umso wichtiger ist es, für die beiden vermeintlichen Problemkinder eine geeignete Schule zu finden. Auf Schloss Salem findet die Familie in Kurt Hahn einen Internatsleiter, der mit seinen liberalen Erziehungsvorstellungen ganz die Vorstellungen der Eltern trifft.
Vor allem Golo blüht am See regelrecht auf. „Die Schulklassen waren klein (...), die Lehrer jung, frei der Umgang mit ihnen“, schwärmt er später im Rückblick: „Nichts mehr von dem Ducken vor dem energischen, dem grausamen Quälen der alten und hilflosen Studienräte, wie es in München der Brauch gewesen war.“ Schule und Leben, pflichtet auch die Schwester ihm bei, seien „zur harmonischen Einheit verschmolzen“: „Hier war man nicht ‚Kind‘, ‚Schülerin‘, sondern ‚Mensch‘, und eben dies war neu und gut.“
Thomas Mann war selbst mitunter in Salem zu Besuch. Mal schwärmte er von einem „reizenden Auto-Ausflug an den Bodensee“ mit Übernachtung „über der Salemer Pädagogischen Provinz auf dem Heiligenberg“. Mal von einer „ergreifend romantischen Fahrt über Sigmaringen durchs Donautal“.
Ermatingen
Die Jahre ihres von der Nazi-Herrschaft erzwungenen Schweizer Exils 1935 und 1936 verbringen Katia und Thomas Mann in Küsnacht am Zürichsee. Zweimal begeben sie sich in dieser Zeit aber zumindest in Sichtweite ihrer deutschen Heimat, nämlich nach Ermatingen am Bodensee, wo der Schriftstellerkollege Heinrich Heer ins Gasthaus seiner Tante einlädt.
Sohn Golo gibt den Chauffeur und erinnert sich später: „Während die Herrschaften Tee tranken, ging ich hinauf zum Arenenberg und ein Stück darüber, sodass ich auf der anderen Seite den weißen Turm von Hohenbodman sehen, Schloss Heiligenberg und den Gehrenberg oberhalb Markdorf und was noch erraten konnte, hochverbotene Heimat mit einem Gefühl von Sehnsucht, Zorn und Staunen. War solcher Unsinn möglich?“
Später lädt ihn ein Freund zu einem Autoausflug auf Höhe der Höri ein, der Fahrer war gemietet: „Auf der Brücke, die nach Stein am Rhein führt, sprang ich aus dem Wagen, in der plötzlich mich packenden Angst, der Fahrer könnte ein Verräter sein und mich über die Grenze bringen.“
Konstanz
Im Frühjahr 1927 hatte Sohn Golo diese Stadt noch im Triumph verlassen. Weil das Internat in Salem als Privatschule noch nicht prüfungsberechtigt war, fand die Abiturprüfung am Suso-Gymnasium statt. Für die mündliche Prüfung ging es ins Hotel „Barbarossa“, es galt, die Bedeutung des Entwicklungsromans in der deutschen Literatur zu skizzieren. Spezialfrage des Lehrers: Ob er denn auch etwas sagen könne über das jüngste Beispiel, „Der Zauberberg“, von diesem viel diskutierten Autor namens Thomas Mann? Das konnte Golo natürlich, und so gab es am Ende die Note eins.
Elf Jahre später: Tragödie statt Triumph. Thomas Mann ist vor den Nazis längst schon in die Schweiz geflohen. Jetzt bereitet er mit Ehefrau Katia die endgültige Emigration in die USA vor. Da reisen die hochbetagten Schwiegereltern, Hedwig und Alfred Pringsheim, nach Konstanz, quartieren sich im Insel-Hotel ein. Ihre Hoffnung: noch einmal die Tochter sehen, ein letztes Mal in ihrem Leben.
Ein Tagesvisum soll das Treffen in Kreuzlingen ermöglichen. Doch der zuständige Beamte spielt nicht mit. Die Tochter könne doch einfach ihrerseits für den kurzen Besuch nach Konstanz kommen, schlägt er zynisch vor. Doch in diese Falle tappt Katia nicht.
Kreuzlingen
Das freundliche Wirtshaus „Traube am Zoll“, schreibt Viktor Mann in seinen Erinnerungen „Wir waren fünf“, werde er nie vergessen. Jenseits der Grenze war die Nachkriegswelt in diesem März des Jahres 1947 eine andere: „Blitzsaubere Fassaden, Auslagen von Waren aller Art überquellend, Menschen mit freundlichen Gesichtern, geruhsam schreitend und fast so aussehend wie vor langer, langer Zeit wir selbst.“ In diesem von Hunger und Elend unversehrt gebliebenen Paradies sollte er seinen Bruder treffen, für halb elf Uhr vormittags war das Treffen verabredet.

„Sehr pünktlich schoss ein großer Wagen heran und hielt hart vor dem Schlagbaum“, erinnert sich Viktor: „Thomas kam mit raschen Schritten auf mich zu. An den Türstufen des Grenzwirtshauses endeten lange Jahre.“ Der Bruder selbst ist weit weniger enthusiastisch. „Fahrt mit Gret an die Grenze zur Begegnung mit Vikko“, notiert er kühl in sein Tagebuch: „Lügen, Vernebelung, erdrückende Umarmung. Alles sehr seltsam.“ Der Krieg hatte Familien auseinandergerissen – nicht nur physisch, auch mental.
Amriswil
„Ihr Amriswil war wohl die kleinste Gemeinde, in der ich je gelesen habe“, bescheinigt Thomas Mann seinen Gastgebern 1947. Und doch könne es ihr Publikum mit seiner hohen Bildung und Empfänglichkeit „mit jeder großen, berühmten Stadt und Kulturstätte aufnehmen“.
Das sind große Worte aus dem Munde eines Nobelpreisträgers. Dabei wäre der Auftritt um ein Haar nicht zustande gekommen. Der Schriftsteller hatte nämlich ein Honorar von 400 Franken als absolute Untergrenze genannt, der örtliche Literaturverein aber konnte nur 300 aufbringen. „Wenn Sie niemandem etwas sagen wollen von den 300 Franken, so soll es mir recht sein“, gab Mann schließlich nach. „Ich gehe damit nämlich um mindestens 200 Franken unter meinen Preis, und andere Gesellschaften dürfen es nicht wissen.“
Allein sein Tagebuch verrät, dass er im Inneren keineswegs so generös empfindet, wie er seine Gastgeber glauben lässt. Ein „spitzbübischer Kindervater“ sei der Vereinsvorsitzende, heißt es darin. Tatsächlich habe der bis zuletzt keine Anstalten gemacht, sein „Gutmütigkeitshonorar von 300 Franken“ doch noch zu erhöhen.