Aktuelle Bedeutung haftet vielen Büchern an, die Thomas Mann uns hinterlassen hat. Clemens Fuest, Chef des Münchner Ifo-Instituts, sieht im Schicksal der „Buddenbrooks“ eine Parabel auf die heutige Wirtschaftskrise. Und der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen fühlt sich von der gereizten „Zauberberg“-Gesellschaft an hitzige Wortgefechte auf Internet-Plattformen erinnert. Auffallend wenig Erwähnung findet da ein Werk aus dem Jahr 1918, dessen Bezüge zu unserer Zeit eigentlich besonders offensichtlich sind.
„Betrachtungen eines Unpolitischen“ lautet sein Titel, und allein das verrät schon den Grund für sein Schattendasein: „Unpolitisch“, das klingt verdächtig nach Sich-raus-halten-wollen, nach der naiven Vorstellung, man könnte seine staatsbürgerliche Verantwortung einfach an die da oben delegieren. Doch es kommt noch besser. Thomas Mann, dieser Kämpfer für ein freies Deutschland, von den Nazis vertrieben, in den USA als Hitlers Gegenspieler gefeiert: Er zeigt sich darin als entschiedener Antidemokrat.
Demokratie, ja Politik selbst, bekundet der beim Erscheinen des Buchs 43 Jahre alte Autor, sei „dem deutschen Wesen fremd und giftig“. Er sei überzeugt, das deutsche Volk werde „die politische Demokratie niemals lieben können“. Denn nicht allein „psychisch widerdeutsch“ sei dieser Geist, sondern gar „deutschfeindlich, wo immer er walte“.
Wirrkopf statt Nobelpreisträger
Man möchte sich ob dieser völkischen Eskapaden gerade die Augen reiben, da hebt Thomas Mann auch schon im AfD-Sound zu Verschwörungstheorien an. Die Geschichtsforschung werde noch lehren, „welche Rolle das internationale Illuminatentum, die Freimaurer-Weltloge“ bei der Vorbereitung des gerade zu Ende gegangenen Ersten Weltkriegs gespielt habe. Und zwar „unter Ausschluss der ahnungslosen Deutschen natürlich“. Man wähnt sich beim Lesen in einer Chatgruppe rechtsidentitärer Wirrköpfe – statt auf den Spuren eines Literaturnobelpreisträgers.

So anstrengend die Lektüre dieses reichlich verschwurbelten Textes auch bisweilen ist: Es lohnt sich, in diese Abgründe einzutauchen. Finden wir doch darin Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit. Wie kommt autoritäres Denken in einen eigentlich gebildeten Kopf? Woher rührt das Unbehagen an einer Kultur der Freiheit und Mitbestimmung? Wie erklärt sich eine Sehnsucht nach der Opferrolle selbst bei Akteuren einer privilegierten Gesellschaftsschicht?
Zu den erstaunlichen Parallelen zwischen damals und heute zählt das Phänomen der Tugend als spaltendes Element. Die neue Moral steht bereits in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ unter dem Verdacht des Jakobinertums, also (wie Mann es formuliert) der „Humanitätsprinzipienreiterei mit Vorliebe fürs Blutgerüst“. Mit der Wahrheit wähnen sich ihre Vertreter bereits – jedenfalls aus Sicht ihrer Kritiker – im Bund der Ehe. Wer aber mit der Wahrheit verheiratet ist, der hat „den Stand des Liebhabers und Werbenden natürlich weit hinter sich“: Der weiß dann alles besser, toleriert keinen Widerspruch, betreibt „die Ächtung und Ausstoßung anders gesinnter Geister“.
Man denkt heute an Cancel Culture, Genderstreit, Wokeness-Ideologie. Mann dachte damals an Demokraten, Kosmopoliten, Liberale. Bis in die kleinsten Begriffsnuancen reichen die Ähnlichkeiten, etwa wenn Thomas Mann sich über seine „zeitkorrekten“ Mitbürger echauffiert, deren Jargon er kaum mehr „ohne Ekel“ zu hören vermag: „Politisch korrekt“ lautet die Übersetzung ins 21. Jahrhundert.
Bürger sollten sich aus Politik heraushalten
Es ist bekannt, dass der Schriftsteller zu den plastischsten Beispielen dieser überkorrekten Denkungsart seinen eigenen, jüngeren Bruder zählte. Heinrich Mann hatte mit seinen sozialkritischen Romanen wie „Der Untertan“ die Literatur für politische Ziele in Haftung genommen. Thomas verhöhnt solche Kollegen nun als „Zivilisationsliteraten“. Sie betreiben nichts weiter als Politik, verkleiden sie bloß in nette Geschichtchen. Für wahre künstlerische Substanz und Tiefe fehlt ihnen der Sinn.
„Geben Sie Acht“, zitiert er den Fürstenfreund Goethe, der über seinen Zeitgenossen Ludwig Uhland sprach: „Der Politiker in Uhland wird den Poeten aufzehren. In täglichen Reibungen und Aufregungen zu leben, ist keine Sache für die zarte Natur eines Dichters.“

Im Unbehagen an einem derart funktionalisierten, auf Gesellschaftskritik reduzierten Kunstbegriff spiegelt sich auch ein verbreitetes Störgefühl des heutigen, digitalen Zeitalters. Damals war es die beginnende Moderne, die mit ihren technischen Errungenschaften das ganze Leben in einen Maschinenraum verwandelte, in dem nur noch rationale, ökonomische oder politische Entscheidungen zählten. „Entzauberung der Welt“ nannte das der Soziologe Max Weber. Stehen wir heute nicht wieder an diesem Punkt? Haben neoliberale Bildungskonzepte und digitale Algorithmen nicht in frappierend ähnlicher Weise alle Poesie aufgezehrt?
Nicht allein Künstler sollen sich nach Thomas Manns Auffassung aus politischen Dingen heraushalten. Nein, alle Bürger sind ihm zufolge gut beraten, sich dem aufgeregten Geschwätz zu verweigern, die Geschicke ihres Landes den Profis zu überlassen. Darin liegt ein scheinbarer Widerspruch zu den reaktionären Kräften unserer Zeit, die ja ganz im Gegenteil eine Diktatur wittern, auf Mitbestimmung des „wahren Volkes“ pochen.
Untertanentum war der Status quo
Eine Erklärung dafür liefert der Germanist Kurt Oesterle in seinem neuen Buch „Es lebe die Republik!“ (Gans Verlag 2025) über Thomas Manns Entwicklung vom Gegner der Demokratie zu ihrem entschiedenen Fürsprecher. Von politischer Mitbestimmung nämlich war das Bürgertum in der fast ein halbes Jahrhundert währenden wilhelminischen Herrschaft vollständig entwöhnt worden. Ein Aufruf zum Untertanentum entsprach somit – anders als heute – lediglich dem Status quo.

Auch wie Thomas Mann schließlich doch noch zu einem Anhänger der Demokratie wird, lässt sich bei Oesterle nachvollziehen. Denn weniger um Liebe auf den zweiten Blick handelt es sich, vielmehr ist es wohl die Einsicht ins Unausweichliche: Wenn schon die Monarchie in Deutschland zu einem Ende gefunden hat, dann lasst uns wenigstens an einer Demokratie arbeiten, die zu diesem Volk auch passt! Und zwar nicht eine oberflächliche „Gesellschaft“, wie sie die Demokratien westlicher Prägung im Angebot haben. Nein, eine tief empfundene „Gemeinschaft“ soll es werden, errichtet auf dem Fundament deutscher Geschichte.
Und so wirbt Mann für einen demokratischen Geist aus der Freiheitsbewegung des 19. Jahrhunderts, beschwört die identitätsstiftende Kraft der Romantik. Wie hatte der Dichter Novalis es einst formuliert? „Wo junge Leute sind, da ist Republik!“ Mann ruft diesen Ausspruch 1922 in einer Rede der Jugend seiner Nation entgegen – nur vier Jahre nach Erscheinen der „Betrachtungen eines Unpolitischen“.
Am Ende galt Mann selbst als undeutsch
Falsch liegt, wer ihm einen radikalen Kursschwenk unterstellt. Er habe zwar seine Gedanken geändert, lässt er seine reaktionären Kritiker wissen: „nicht aber meinen Sinn.“ Zur Neuauflage der „Betrachtungen“ streicht er manche polemische Passage. Vieles, was liberal gesinnten Demokraten noch heute Bauchschmerzen bereiten muss, bleibt aber stehen. Helfen wird es ihm nicht.
In der aufgeheizten Atmosphäre der Weimarer Republik nämlich gilt ein konservativer, vielleicht sogar reaktionärer Sinn wenig, wenn die Gedanken neue Wege gehen. Von Novalis und seiner Republik wollen die meisten jungen Menschen nichts wissen. Friedrich Georg Jünger, Bruder des Schriftstellers Ernst Jünger, hebt Thomas Manns Konterfei in einen Bildband über die „Gesichter der Demokratie“. Das klingt nach Würdigung, ist aber eine Denunziation. Denn die unvorteilhafte Bildauswahl zeigt mehr Fratzen als Gesichter, Befürworter eines demokratischen Systems werden hier als Vaterlandsverräter vorgeführt.
So schnell kann es gehen, dass aus einem Anhänger der Monarchie das Gesicht einer demokratischen Republik wird. Und in der Folge ein Feind der Diktatur. Als „Volksschädling“ beschimpft ihn Reichspropagandaminister Joseph Goebbels schließlich und als „unwürdig, Deutscher zu sein“. So gesehen dient Thomas Manns Schrift „Betrachtungen eines Unpolitischen“ bis heute als mahnendes Beispiel. Wer einmal damit anfängt, über „Deutschfeindlichkeit“ und „widerdeutsche“ Ansichten zu schwadronieren, muss genau damit rechnen: Eines Tages selbst dem nationalistischen Furor zum Opfer zu fallen.