Was aktuell in den USA passiert, schärft nochmals den Blick auf ein Phänomen, das überall auf der Welt zu beobachten ist: die Geschwindigkeit, mit der rechte Regierungen, einmal an der Macht, demokratische Staaten umbauen.
Das Phänomen ist nicht neu. Man kann es seit Jahren in osteuropäischen, jetzt auch in westeuropäischen Ländern beobachten. Vor allem ist es aus der deutschen Vergangenheit bekannt. Man darf davon ausgehen, dass die vielen Menschen, die zur Premiere von Lars Werners „Die ersten hundert Tage“ in die Spiegelhalle des Konstanzer Stadttheaters gekommen sind, das alles wissen.
Angesichts der Ungeheuerlichkeit der Ereignisse ist es nicht falsch, die Menschen in ihrem Wirklichkeitssinn zu bestärken. Werners Stück geht davon aus, dass die Regierungsübernahme einer rechtsradikalen Partei auch bei uns wieder Wirklichkeit geworden ist. Vor zirka zwei Jahren geschrieben hat der Autor darin seinen politischen Instinkt unter Beweis gestellt.
Nicht nur, dass die AfD aktuell bei Umfragen annähern die 26 Prozent erreicht, die in seinem Stück die faschistoide Regierung an die Macht gebracht hat. In der Aussage seines „alten Bundeskanzlers“, es gehe nicht anders, und er wolle für alle gute Lösungen, kann man sich an die Taktik unseres neuen Bundeskanzlers erinnert fühlen, mithilfe der AfD eine Mehrheit für seine Migrationspläne zu bekommen.
Angst vor Repressionen
Mindestens für drei ist es keine gute Lösung. Roya, Marin und Lou haben sich nach der Regierungsübernahme nach Tschechien abgesetzt. Die erfolgreiche Investigativjournalistin Roya hat zuvor über die Verbindung der Regierungspartei mit russischem Geld geschrieben, die queere Lou erforscht eigentlich an der Uni Gender-Fragen. Nach allem, was man aus von den ersten hundert Tagen der neuen Regierung vernimmt – „queerfreundliche“ Clubs und Bibliotheken werden geschlossen, Universitäten das Geld entzogen, Mutterschaftsprämien für Bio-Deutsche gezahlt – haben sie Grund genug, Angst vor Repressionen zu haben.
Marin ist mitgegangen, wobei sein Behauptung, er sei in seinem Theater auf einer schwarzen Liste gestanden, wohl nicht stimmt. Auf Initiative von Silvio, dem Vierten in ihrer linken WG-Gang aus vergangenen Studientagen, treffen sie sich in einer Shell-Tanke kurz hinter der tschechischen Grenze.

Silvio betritt in Leonard Dicks Konstanzer Inszenierung mit einem Benzinkanister und zwei Autoreifen die Bühne. Max Frischs Biedermann ist da nicht weit. Er ist der einzige des Quartetts, der in Deutschland geblieben ist und sich arrangiert hat. Und vielleicht sogar noch mehr. Nun will er etwas von seinem (ehemaligen) Freundeskreis, wodurch, wie erst am Ende rauskommt, deren politische Haltung fundamental korrumpiert wird.
„Die ersten hundert Tage“ hat auch Suspense-Momente, die in Dicks Inszenierung gut zum Tragen kommen. Auf dieser von Alex Gahr eingerichteten Bühne ist alles möglich. Oben steht die genervte Angestellte Vera an der Kasse, unten gleitet der Blick über einen wandbreiten Kühlschrank, in dem sich die Kundschaft mit Getränken bedient. Der dröhnende Filmmusiksound von Oscar Hoppe suggeriert dramatische Spannung.
Der Inszenierung geht es allerdings um mehr, als das Publikum in seiner politischen Wahrnehung zu festigen. Laut des im Programmheft abgedruckten Gesprächs von Regisseur Leonard Dick mit Dramaturgin Lea Seiz soll ein wichtiger Aspekt der Inszenierung sein, dass die vier Personen überhaupt noch miteinander sprechen. Und so ist es auch in der Spiegelhalle zu erleben.
Leonard Meschter (Sivio), Nayana Heuer (Roya), Julius Engelbach (Marin) und Ruby Rawson (Lou) spielen sehr dialogstark, werfen sich voll und ganz in jede sich bietende verbale Auseinandersetzung. Das kommt so persönlich rüber, dass man stellenweise fast den politischen Hintergrund vergessen könnte.

Da sind diese Rückblicke auf irgendwie glückliche linke WG-Zeiten, in denen jeder und jede etwas miteinander hatte. Besonders Marin versucht das alles, das Persönliche wie das Politische, mit seinem ständigen „Aktualisieren“ auf die Reihe zu bringen. Fast komischer Höhepunkt seines sich überschlagenden Kopfkinos: Kann man von Verstecken sprechen, wenn einen niemand sucht?
Das Spiel auf mehreren Ebenen ist anspruchsvoll. Wie eine kleine Erholungspause kommt die Rückblende zu Silvios Hochzeit da gerade recht, ein nicht schlecht gewähltes Setting, wo angesichts scheinheiliger Reden und endloser Alkoholströme leicht die Fassaden einreißen. In der Spiegelhalle wird daraus ein Ausflug ins Publikum, was diesem möglicherweise nochmals vor Augen führen soll, dass es mit den Auseinandersetzungen auf der Bühne durchaus etwas zu tun hat. Wo positioniere ich mich selbst in dieser Konstellation?
Verheddert in Gefühlen und Standpunkten
Es ist deprimierend und überzeugend zugleich, wie sich die Freunde mehr und mehr in ihren Gefühlen, aber auch in ihren gegensätzlichen Standpunkten verheddern, auch dank der Darstellenden. Was klar wird: Silvio mag sich als Scheinlinker entpuppen, der mit Lous queeren Aktivitäten und Royas konsequent antifaschistischer Haltung in Wahrheit nichts anfangen kann, aber man sieht auch, dass der Nonkonformismus seine unschönen Intoleranzen aufweist.
Aber ist das genug, um irgendwie im Gespräch zu bleiben? Silvios Bitte einschließlich seinem unanständigen Angebot, das die menschlichen Nöte von Roya und Lou ausnutzt, ist eigentlich dazu angetan, jede Gemeinschaft zu sprengen. Vera, die durch Sylvana Schneider ein willkommenes komisches Moment erhält, spricht als Beobachterin von außen aus, was einem längst auf der Zunge liegt. Was hat das alles für einen Sinn?
Die Inszenierung sorgt dafür, dass ihr Publikum dranbleibt am so beklemmenden wie spannenden Bühnenstreit. Es wirft am Ende wichtige Fragen auf, kann aber auch den Eindruck nicht ganz abweisen, dass diese bereits beantwortet sind. Haben diese Menschen tatsächlich noch eine Aussicht miteinader?
Kommende Vorstellungen am 27., 28., 30. und 31. Mai. Weitere Informationen: www.theaterkonstanz.de