Herr Sznaider, Rücksichtnahme auf Minderheiten gehört mehr denn je zu den primären Anliegen von Kulturschaffenden – die Stichworte lauten Postkolonialismus, Gendersensibilität, Rassismuskritik. Sind Juden von dieser Achtsamkeitswelle ausgeschlossen?

Das könnte man meinen. Wahrscheinlich hat es etwas mit dem verbreiteten Eindruck zu tun, Juden seien gar keine Minderheit mehr. Es gibt heute den Staat Israel, Juden üben also politische Souveränität aus, wenden auch Gewalt an. Vor allem im sogenannten globalen Süden nimmt man sie deshalb nicht mehr als Minderheit wahr. Aus dieser Perspektive ist das auch verständlich, es schwappt aber über in das Bewusstsein einer sich weltoffen und „woke“ gebenden europäischen Elite.

Roger Waters, Gründer der Rockband „Pink Floyd“, lässt ein mit Davidstern versehenes Ballonschwein übers Publikum segeln. Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux nennt es eine moralische Verpflichtung, Beziehungen zum Staat Israel abzulehnen. Und auf der Documenta zeigt ein indonesisches Künstlerkollektiv antisemitische Motive ...

Der Fall Roger Waters tut mir besonders weh, schließlich bin ich mit Pink Floyd aufgewachsen. Aber dass Künstler politisch weise seien, ist ein verbreiteter Irrtum. Und Waters gibt dafür ein gutes Beispiel ab: Der ist wirklich mehr dumm als antisemitisch und so wahnsinnig von sich überzeugt. Das Suchende in der Musik, was er wirklich gut kann, wird dann von politischer Einfältigkeit kompensiert. Mir machen Antisemiten allerdings nicht wirklich Angst. Meine Einstellung lautet: „Sollen sie doch!“ Deshalb habe ich das Abhängen dieses antisemitischen Wimmelbildes auf der Documenta kritisiert. Als jüdischer Mensch sage ich: Lasst uns mit dem Antisemitismus im öffentlichen Raum viel selbstbewusster umgehen!

Ihre Einstellung wirkt entspannt.

Ganz im Gegenteil: Es ist sogar eine sehr angespannte Einstellung. Ich will mich nur nicht wie im Zoo fühlen, als Angehöriger einer bedrohten Art. Als jemand, der den deutschen Staat um Schutz vor Beleidigungen anflehen muss.

Richten Sie sich damit auch gegen eine verbreitete Betulichkeit? Der Publizist Max Czollek kritisiert deutsche Politiker, die ein „Wunder der Versöhnung“ feiern, das es nie gegeben hat. Er nennt es „Versöhnungstheater“.

Max Czollek hat in dieser Hinsicht wohl recht. Das Wort Versöhnung mag bei Gedenkfeiern einen Sinn ergeben, für jüdische Menschen aber hat es weniger Bedeutung. Mit wem oder was sollten sie sich versöhnen? Mit Antisemiten etwa? Oder auch Philosemiten. So viel Assimilation muss nicht sein.

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Im Christentum spielt Versöhnung eine große Rolle. Liegt ein Grundmissverständnis in der Erwartung, das müsste auf jüdischer Seite genau so sein?

Den Wunsch nach Versöhnung an sich kann ich nachvollziehen, auch dass er vielleicht christlich motiviert ist. Wer kann schon gegen Versöhnung sein? Aber das müssen wir Juden ja nicht mitmachen. In den 50er-Jahren gab es deutsch-israelische Verhandlungen um Restitution und Reparation. Diese Begriffe bedeuten: Man gibt etwas zurück, das man zuvor genommen hat. Auf deutscher Seite sprach man stattdessen von Wiedergutmachung. Solche Wörter – „Versöhnung“, „Wiedergutmachung“ – waren für die Konstitution der Bundesrepublik bestimmt sehr wichtig.

Sie sagen, deutsche Künstler empfänden das Nationale als spießig und
provinziell. Deshalb strebten sie nach globaler Gleichheit: ein Konzept, in das die Juden nicht hineinpassen.

Die Sehnsucht nach internationaler Gleichheit ist ein globales progressives Phänomen. Der Staat Israel dagegen ist die partikulare Lösung eines partikularen Problems. Es bestand darin, dass Juden nicht mehr hilflos sein und sich sicher fühlen wollten. Die Ungleichheit zwischen Juden und Nichtjuden ist in diesem Staat eingebaut, sie findet ihre Rechtfertigung in dem Satz „Nie wieder wir“: Man hat versucht, uns zu vernichten, heute sind wir imstande, uns zu verteidigen. In Deutschland wurde das immer als deutsche Bürde anerkannt. Doch jetzt wollen sich Teile einer deutschen Kulturelite als globale Kulturelite verstehen und erkennen eher die Bürde des weißen als des deutschen Menschen an. Und dabei schließen sie an die Idee einer internationalen Gleichheit an.

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An anderer Stelle bestehen dieselben Leute auf Ungleichheit. Dann darf man aus Respekt vor indigenen Völkern bestimmte Frisuren oder Kostüme nicht tragen, weil das kulturelle Aneignung sei. Auf Diversität und Respekt vor anderen Völkern pochen, jüdische Partikularinteressen dabei aber ausklammern: Ist das nicht verlogen?

Nun, besser hätte ich es nicht formulieren können. Verlogen vielleicht nicht, eher Teil des unschlüssigen Zeitgeists. Das Konzept der kulturellen Aneignung geht von einer Geschlossenheit kultureller Einheiten aus, die es so nie gegeben hat. Das funktioniert nur in der Fantasie reaktionärer Romantiker. Es gibt eigentlich nichts Weltverschlosseneres als die selbsternannten Weltoffenen!

Ein weiteres Phänomen ist der sogenannte Artivismus. In einem Kunstwerk auftauchende antisemitische Motive – wie im Fall der Documenta – müssten ja an sich noch lange nicht auch antisemitisch gemeint sein. Doch Kunst nähert sich so sehr der politischen Propaganda an, dass an dieser Absicht gar kein Zweifel bestehen kann.

Es ist lange Zeit Aufgabe der Kunst gewesen, zu dienen: etwa der Kirche oder dem Staat. Mit der bürgerlichen Revolution hat sich dann das Modell einer autonomen Kunst als Ideal entwickelt. Auf dieser Autonomie beruht das, was auf der Documenta so oft beschworen wurde: die Kunstfreiheit. Der Staat soll sich aus künstlerischen Belangen heraushalten. Das Bemerkenswerte: Dieser Begriff der Kunstfreiheit gilt für diese politische Kunst nicht wirklich. Denn sie lehnt die Autonomie ja sogar ab, Kunst soll bei ihr wieder dienen, diesmal nicht dem Staat oder der Kirche, sondern der sogenannten Community.

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Welche Folgen hat das?

In dem Moment, wo es sich um politische Kunst handelt, steht nicht mehr die Freiheit der Kunst auf dem Spiel, sondern die Redefreiheit. Redefreiheit aber schließt die Freiheit zur Gegenrede mit ein. Die künstlerischen Leiter der Documenta haben versucht, auf allen Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen: Erst propagierten sie einen Kunstbegriff im Dienste der Gemeinschaft. Gab es dann Kritik, beriefen sie sich auf die Autonomie der Kunst. Es war absurd.

Wenn es am Documenta-Skandal etwas Gutes gibt: Ist es die Tatsache, dass er bislang unter der Decke gehaltene
Ressentiments ans Licht brachte?

Ja, der lange verdeckte Antisemitismus stand mit einem Mal offen sichtbar im Raum. Und wenn jüdische Vertreter davon sprechen, dass da ein Vertrauensverhältnis zwischen den Juden in Deutschland und der deutschen kulturellen und politischen Klasse zerstört worden sei, frage ich mich: Wie konnte man nur an ein solches Vertrauensverhältnis glauben?