Nun erwischt es also auch das renommierte Theatertreffen: Wo eben noch eine klassische Dramaturgin die Fäden zusammenführte, soll künftig ein vierköpfiges Kollektiv wirken. Mit dabei eine „Artivistin“, deren Berufsbezeichnung – eine Kombination aus „Art“ und „Aktivismus“ – an ihrer politischen Kunstauffassung keinen Zweifel lässt. Über das bislang aus den Einladungen einer unabhängigen Jury resultierende Programm soll das neue Führungsquartett wesentlich mitentscheiden.

Aktivistische Kollektive übernehmen im Kunstbetrieb das Kommando. Welche Folgen das zeitigen kann, war jüngst bei der von einem indonesischen Kollektiv verantworteten Kasseler documenta zu besichtigen. Es ist eine merkwürdige Gleichzeitigkeit von Verwässerung und Verhärtung.

Verwässert wird zunächst die Verantwortung. Schon im Fall der documenta bestand ein wesentliches Problem des Skandals um antisemitische Motive im Fehlen klarer Zuständigkeiten. Wer für das Aufhängen des Bildes „People‘s Justice“ letztlich verantwortlich war, ist bis heute nicht geklärt: Generaldirektorin Sabine Schormann? Das Kuratorenkollektiv „Ruangrupa“? Oder das wiederum von diesem engagierte Kollektiv „Taring Padi“? Und welcher Teil davon, welches Mitglied? Bislang gelang es nicht einmal, den Urheber der umstrittenen Figuren zu identifizieren.

Verwässert und verhärtet

Problematisch ist dieses Verwässern von organisatorischer Zuständigkeit, weil es mit einer inhaltlichen Verhärtung einhergeht, die eine klare Verantwortung umso dringlicher erscheinen lässt. Verhärtet wird in der gegenwärtigen Kunst der politische Gehalt in einer nie da gewesenen Form. Der Medientheoretiker und Chef des Karlsruher Zentrums für Kunst und Medientechnologie (ZKM), Peter Weibel, spricht gar von der „ersten wirklich neuen Kunstrichtung des 21. Jahrhunderts“.

Die Verbindungslinie für diese neue Kunstrichtung reicht vom deutschen „Zentrum für politische Schönheit“ über die russische Punkband Pussy Riot bis zum Chinesen Ai Weiwei. Von früheren Formen des politischen Aktivismus‘ unterscheidet sie sich durch radikale Eindeutigkeit: Wo der Aktivist Jonathan Meese vor zehn Jahren noch beim öffentlichen Zeigen des Hitlergrußes bewusst mit den Grenzen von Ironie und Pathos, von Inszenierung und Realität spielte, bestehen die heutigen „Artivisten“ darauf, beim Wort genommen zu werden.

Das könnte Sie auch interessieren

Ai Weiwei zählte zu den Vorreitern, als er 2016 den Körper des ertrunkenen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi nachstellte und aus seiner plakativen Absicht gar keinen Hehl machte. Er habe schlicht auf die Not der Flüchtlinge aufmerksam machen wollen. Kunst als politischer Protest, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Identifikation statt Reflexion, auf diese Formel bringt Wolfgang Ullrich im Deutschlandfunk den Kern der Entwicklung. Der Kunsthistoriker hat über sie ein Buch geschrieben, er spricht darin kritisch von einer „Bekenntniskultur“, die bisweilen in „tyrannische Wertevermittlung“ ausarte.

Die Moral der Artivisten wirkt direkt, ohne Netz und doppelten Boden, ganz wie die politischen Botschaften der sogenannten sozialen Netzwerke – von denen diese Kunst ganz unverkennbar ihre Inspiration bezieht. Kunst sei „kein Ideologiebestätigungssystem“, hatte Meese einst in seinem wegen des Hitlergrußes angestrengten Gerichtsverfahren ausgerufen: Genau das steht nun in Frage.

Verantwortung und ästhetischer Wert

Aus diesem neuen Format ergeben sich gleich mehrere Herausforderungen; neben der Frage nach Verantwortung und ästhetischem Wert auch die nach möglichen juristischen Folgen. Jonathan Meeses Freispruch wurde damit begründet, dass die Strafwürdigkeit eines Hitlergrußes wesentlich davon abhängt, ob er im Kontext einer Performance gezeigt wird oder auf einer politischen Demonstration ohne künstlerische Einordnung.

Schon im Fall der antisemitischen Motive von Taring Padi scheint dieser Kontext nicht gesichert. Wenn sich Kunst der Ausdrucksform einer gewöhnlichen politischen Demonstration aus freien Stücken bis zur Ununterscheidbarkeit annähert, ist einem Missbrauch von Kunstfreiheit Tür und Tor geöffnet.

„Ich würde mich unwohl fühlen in einer Welt, wo jede rechte aktivistische Gruppe sich auf Kunstfreiheit berufen und übelste Aktionen starten kann“, sagt denn auch der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich. Er plädiert deshalb dafür, „aktivistische Projekte und Werke, die auf die politische Meinungsbildung einwirken und etwas verändern wollen“, besser „unter dem Label der Meinungsfreiheit zu führen“.

Die Kunstfreiheit ist rasch missbraucht

Im Vergleich zur Freiheit der Kunst ist diese weniger großzügig ausgelegt. So müssten Artivisten damit rechnen, bei potenziell antisemitischen oder rassistischen Inhalten leichter belangt werden zu können. Dafür bliebe die Rechtslage für eine Kunst, die sich klassischer Werkformen bedient, gewahrt. Das sei ohnehin ein spezifisch deutsches Phänomen, sagt Ullrich: In anderen demokratischen Gesellschaften sei die Unterscheidung zwischen Kunst- und Meinungsfreiheit so kaum zu finden.

Kunst wird immer mehr zur bloßen Meinungsäußerung, doch wenn‘s schief geht, will niemand verantwortlich sein? Sollte die „erste wirklich neue Kunstrichtung des 21. Jahrhunderts“ auf dieses Prinzip setzen, dürfte sie nicht lange Bestand haben.