Er ist weltbekannt und hat alles erreicht, was ein Schriftsteller erreichen kann – doch Orhan Pamuk hat Angst. Repression und Willkür in der Türkei seien so schlimm wie nie, sagt der Literatur-Nobelpreisträger. „Schlimmer kann es nicht mehr werden.“ Pamuk wirft der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan eine „sadistische“ Verfolgung von Andersdenkenden vor. In einem Interview mit einem regierungskritischen Internet-Sender sprach Pamuk jetzt über seine Überzeugung, dass die Ära Erdogan zu Ende geht. „Die schlimmste Zeit liegt hinter uns.“
„Natürlich habe ich Angst“, sagte Pamuk der Internet-Plattform T24. In der Türkei herrsche Willkür, Menschen würden mit „sadistischen, grausamen und unmenschlichen“ Methoden verfolgt. Seit Erdogans Amtsantritt als Staatsoberhaupt 2014 hat die Justiz fast 200.000 Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet. Ein kritischer Tweet oder ein unbedachter Satz können ins Gefängnis führen.
Auf dem Balkon seines Sommerhauses auf den Prinzeninseln vor Istanbul sprach Pamuk mit dem T-24-Journalisten Murat Sabuncu, der wegen kritischer Berichterstattung kürzlich eineinhalb Jahre im Gefängnis saß, über seine Ängste und Hoffnungen. Der Autor kritisierte die Inhaftierung des Kulturförderers Osman Kavala, der von Erdogan als Landesverräter abgestempelt wurde. Trotz aller Angst werde er aber weiter den Mund aufmachen, weil er sich sonst schämen müsse, sagte Pamuk. „Man sagt mir, ich sei mutig. Aber ich bin nicht mutig, ich habe Angst und sage trotzdem meine Meinung.“
Seine Angst thematisiert Pamuk auch in seinem neuen Buch „Ferne Berge und Erinnerungen“, das in diesen Tagen in der Türkei erscheint. Anders als die meisten seiner anderen Bücher ist das neue Werk kein Roman, sondern eine Auswahl von Zeichnungen und Notizen. 25 Notizbücher hat Pamuk im Lauf der Jahre gefüllt – 4000 Doppelseiten mit winzig gekritzelter Schrift und bunten Zeichnungen. 200 dieser Doppelseiten sind in dem Buch reproduziert.
Festgehalten sind unter anderem seine Gefühle angesichts der Verfolgung von Künstlern, Intellektuellen und Dissidenten in der Türkei. „Natürlich sind Todesdrohungen und Hassreden nichts, was man wegstecken kann als Künstler“, sagte er. „Ich habe viele Nächte nur mit Schlaftabletten schlafen können in meinem Leben, aber habe ich das Recht, mich darüber zu beklagen? Wenn ich daran denke, was Schriftsteller früherer Generationen in diesem Land erleiden mussten, dann geht es mir noch gut.“ Nazim Hikmet, der bedeutendste türkische Dichter des 20. Jahrhunderts, wurde verfolgt und ins Exil getrieben, wo er 1963 starb.

Auch Orhan Pamuk befürchtete vor einigen Jahren, er werde die Türkei nicht wiedersehen. In seinem neuen Buch hat er den Augenblick im Jahr 2019 verewigt, in dem er von Erdogans Terrorismus-Vorwurf gegen ihn erfuhr. Die Buntstift-Zeichnung zeigt seinen Schreibtisch an der Columbia-Universität in New York mit einem Notizbuch und einem Kaffee.
Unter dem Tisch steht ein Koffer, mit Bleistift hat Pamuk dazu gekritzelt: „fertig gepackter Koffer“ – denn er war damals gerade auf dem Sprung zurück in die Türkei. „Vom Staatspräsidenten als Terrorist bezeichnet zu werden in einem System, in dem der Mann jeden einsperren kann, solange er will – ich hatte Angst, nie in die Türkei zurückkehren zu können“, sagte er.
Inzwischen blickt Pamuk zuversichtlicher in die Zukunft, denn er beobachtet einen Abwärtstrend von Erdogans Partei AKP. „Meiner Ansicht nach sind die schlimmsten und repressivsten Jahre nun vorbei, denn die Macht der AKP reicht einfach nicht mehr, um alle einzusperren.“ Der Staatsapparat verweigere der AKP die Gefolgschaft. „Ich glaube, wir sehen jetzt endlich das Licht am Ende des Tunnels.“ Bei den Wahlen 2023 hofft Pamuk auf einen Erfolg der Opposition.
Mit seinem Interview stößt Pamuk in der Türkei auf Kritik – aber nicht bei der Regierung, sondern bei linksgerichteten Erdogan-Gegnern. Noch vor einigen Jahren habe Pamuk nur Gutes über Erdogan zu sagen gehabt, kommentierte die Nachrichten-Plattform Sol.org.tr. Wahrscheinlich liege das daran, dass der Schriftsteller das Ende der AKP-Regierung kommen sehe: „Er hängt sein Fähnchen in den Wind.“