Theaterregisseur Christopher Rüping war der erste, der aussprach, was viele dachten: Das Publikum ist weg! Zwar war das noch im April, als er seinen bösen Verdacht auf Twitter kundtat, die Zeit der Maskenpflicht und Impfnachweise lag da nicht lange zurück. Auch war das Publikum natürlich nicht ganz verschwunden. Aber immerhin: Zum ersten Mal in seiner Karriere musste er erleben, dass eine Premiere nicht ausverkauft war.

Theaterregisseur Christopher Rüping inszeniert unter anderem auch in Zürich.
Theaterregisseur Christopher Rüping inszeniert unter anderem auch in Zürich. | Bild: DPA

Unter dem von Rüping erfundenen Hashtag „Publikumsschwund“ diskutieren in den sogenannten sozialen Netzwerken seither Kulturschaffende in ganz Deutschland über empfundene und tatsächliche Zuschauerrückgänge. Und vor allem über die Frage, ob die Zeiten jemals wieder so werden, wie sie mal waren.

Die Sorge geht um vor einer Zukunft der leeren Ränge und geschlossenen Theater. Sogar ein Blog zu diesem Thema gibt es inzwischen. 30 Prozent Besucherrückgang bei der Deutschen Oper Berlin! 50 Prozent im Düsseldorfer Opernhaus! Sind solche Horrorzahlen auch in unserer Region zu finden?

„Wirtschaftlich ein Desaster“

In der Tat: „Die Saison war wirtschaftlich ein Desaster“, gibt Jochen Frank Schmidt im privat geführten, auf Musicals spezialisierten Bad Säckinger Gloria-Theater unumwunden zu Protokoll. Um sage und schreibe 70 Prozent sei die Besucherzahl im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit eingebrochen.

Theaterintendant Jochen Frank Schmidt, Gloria-Theater Bad Säckingen.
Theaterintendant Jochen Frank Schmidt, Gloria-Theater Bad Säckingen. | Bild: Susanne Eschbach

„Die Leute hatten so viele verständliche Gründe, nicht zu kommen“, erklärt der Theaterchef: „Angst um ihr Leben, keine Lust auf die Maske, keine Lust auf Diskussionen, bis hin zur gesellschaftlichen Ächtung, weil man ja überall hörte, dass es unverantwortlich wäre, ins Theater zu gehen.“

Dramatische Lage

Auch bei der Südwestdeutschen Philharmonie in Konstanz ist die Lage dramatisch. So lag die Auslastung der Philharmonischen Konzerte nach Auskunft von Pressesprecherin Martina Kraus bei lediglich 40 Prozent der möglichen Platzkapazität, was selbst bei normaler Kapazität höchstens 60 Prozent entsprechen würde. Die Zahl der Abonnenten ist laut jüngstem Quartalsbericht mit 2419 auf den niedrigsten Stand seit zehn Jahren gesunken, ein Minus von mehr als 800 im Vergleich zur Zeit vor der Coronapandemie.

In dieser sieht man auf Anfrage auch die Ursache allen Übels. Wegen der „kompletten Schließung der Institution und Aussetzung des gesamten Spielbetriebes während der beiden Lockdowns“ hätten die Abonnements ausgesetzt werden müssen. Und selbst nach Ende der Lockdowns sei wegen wechselnder Verordnungen und anhaltender Einschränkungen an eine „Wiederaufnahme des Abos“ nicht zu denken gewesen.

Blick ins Gloria-Theater in Bad Säckingen.
Blick ins Gloria-Theater in Bad Säckingen. | Bild: Gloria-Theater GmbH

Doch es gibt auch andere Beispiele. Am Theater Konstanz verkündet Pressesprecherin Dani Behnke eine Erfolgsmeldung, die „bundesweit wahrscheinlich Alleinstellungswert hat“: Die Zahl der Abonnenten sei nämlich um 169 Personen angestiegen.

Zur Auslastung will man zwar zurzeit keine Angaben machen, hat dafür aber eine plausible Erklärung. Abhängig von den Bedingungen des Spielorts – Großes Haus, Spiegelhalle, Werkstatt oder Münsterplatz – habe sich nämlich die jeweilige Platzkapazität in den vergangenen Monaten unterschiedlich entwickelt.

Eine um diese Effekte bereinigte verlässliche Gesamtzahl zu errechnen, wäre hochgradig komplex. Doch wer abonniert, will auch Theater sehen: Am Theater Konstanz deutet alles darauf hin, dass sich die These eines längerfristigen Publikumsschwunds eben nicht so leicht bestätigen lässt.

Es gibt oft noch Karten

Für belastbare Aussagen über dauerhafte Veränderungen ist es schlicht zu früh. Vor allem deshalb, weil die Pandemie längst noch nicht vorbei ist, schon gar nicht in den Köpfen. „Uns ist aufgefallen, dass zahlreiche Besucher weiterhin von einem reduzierten Platzangebot ausgehen“, sagt Behnke. „Viele potenzielle Interessenten glauben deshalb, die Vorstellung sei bestimmt längst ausverkauft, obwohl es durchaus noch Karten gibt.“

Lange Zeit sahen Kinos so aus.
Lange Zeit sahen Kinos so aus. | Bild: Robert Kneschke - stock.adobe.com

So liegt der so verfrühten wie erregten Debatte um einen möglichen Publikumsschwund womöglich die berechtigte Sorge zugrunde, die Pandemie könnte mehr sein als nur eine Krise: nämlich der Brandbeschleuniger eines längst bestehenden Strukturwandels.

Bereits vor mehr als zehn Jahren haben Wissenschaftler der Friedrichshafener Zeppelin-Universität eine Erosion des klassischen Bildungsbürgertums vorausgesagt und mehr Innovation in Kulturbetrieben angemahnt.

Angebote ans Spontan-Publikum

„Natürlich geht das Theater auf diese Veränderung ein“, heißt es heute vonseiten des Theaters Konstanz mit Verweis auf neue Formate wie immersives Theater und Theater im Stadtraum. Die gestiegene Abozahl sieht man deshalb auch als Beleg für den Erfolg der Diversifizierung, weitere Angebote an das neue „Spontan-Publikum“ sollen ihn verstetigen.

Bei der Philharmonie setzt man derweil ganz auf Kommunikation, Planungssicherheit und Programmatik. Und in Bad Säckingen verkündet Intendant Schmidt kämpferisch, er werde „das beste Programm aller Zeiten auflegen“. Welcher Ansatz dem Schwund am besten vorbeugt, wird sich vielleicht schon bald zeigen.