Herr Graf, Sie schreiben kurze Essays, die sie als „crônicas“ bezeichnen. Das heißt, Sie schreiben aus persönlicher Sicht über tagesaktuelle Geschehnisse. Häufig spazieren Sie über die Grenzen hinweg, die inzwischen geschlossen sind. Können Sie uns heute weiterhelfen?
Meine Spaziergänge führen meistens über die Grenze. Am Sonntag war ich zwischen dem Klingenberg und dem Schienerberg unterwegs. Das Überschreiten der Grenze inspiriert. Ich bin in der Grenzregion aufgewachsen. Erinnere mich daran, was mein Vater über die Grenze erzählt hat und wie sie mein Großvater erlebt hat. Es sind Welten dazwischen. Grenzregionen faszinieren mich. Leben in einem Deutschschweizer Binnenkanton? Lieber nicht. Nun zu Ihrer Frage: Nein, weiterhelfen kann ich nicht. Ich kann nur sagen, was das Ganze bei mir auslöst: Vor anderthalb Wochen habe ich die Hans-Baldung-Grien-Ausstellung in Karlsruhe besucht. Bei der Fahrt über den Schwarzwald ist mir die Frage durch den Kopf gegangen, ob das auch in einer Woche noch möglich wäre. Das war es nicht. Aber die Ausbreitung der Seuche, die plötzlichen Grenzen, die es zu beachten gilt, sind zum Ausgangspunkt für ein neues Buch geworden.
Wieso fördert Bewegung die Kreativität?
Ich zitiere Peter Stamm, der während einer Lesung sinngemäß gesagt hat, der Mensch sei mit Füßen und Beinen, nicht mit Wurzeln ausgestattet.
Ein Bild von Otto Dix „Blick von Hemmenhofen über den Untersee“ wurde zum Titelbild ihres neuesten Buchs. „Die Launen des Windes“ heißt es, der vierte Band der Tagebuchreihe. Wie kam das Bild in den Besitz Ihrer Familie?
Mein Vater hat Otto Dix während des Krieges mit Farben versorgt, die in Deutschland damals nicht mehr zu haben waren. Wie dieser Kontakt über die geschlossene Grenze genau funktioniert hat, weiß ich nicht. Die Bergtrotte, das Wirtshaus meiner Großeltern am Klingenberg, war auch während des Krieges ein Ort des unerlaubten Grenzverkehrs und Informationsaustausches. Auf jeden Fall durfte sich mein Vater nach dem Krieg von Otto Dix ein Bild wünschen.
Während des NS-Regimes waren die Blicke über den See nach Steckborn für viele die einzig mögliche Verbindung. Soll ein Virus uns nun vom Grenzverkehr abhalten? Ist das nicht eine unsinnige Maßnahme? Es macht doch vor Grenzen nicht halt?
Ja, natürlich nicht. Aber ich reise vorderhand nach Möglichkeit überhaupt nicht herum, sondern arbeite zuhause und mache meine Spazierwanderungen. Die Frühlingswanderungen auf der Höri fallen für dieses Jahr ins Wasser. Ich hole sie nach. Und die Grenzgänger können ja weiterhin hin- und herpendeln – wenn auch mit Umwegen.
Bei Eschenz bieten die drei Werdinseln eine Furt. Um diesen Übergang zu sichern, bauten die Römer hier ein Kastell, das noch sehr gut erhalten ist (und überirdisch zu besichtigen). Sie wohnen in diesem ältesten Teil der Siedlung. Entschieden Sie sich auch deshalb für die Alte Geschichte als Studienfach?
Ganz klar. Die Suche nach „Pfahlbauersachen“ und römischen Münzen auf der Insel Werd gehörte in Kindertagen zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Auf dem Burgfriedhof wollte ich einmal nach römischen Grabbeigaben graben. Die Mesmerin hat mich im letzten Moment davon abgehalten. Zur Insel hinauf ruderte ich mit unserer Fischergondel. Hinter dem Seerücken habe ich mir den Indischen Ozean vorgestellt und kam mir dabei wie Sindbad vor.

Sie stammen aus einer der ältesten Steiner Familien, bis wann können Sie den Stammbaum zurückverfolgen? Schafft das eine besondere Verpflichtung für die Stadt?
So alteingesessen ist die Familie auch wieder nicht. Sie lässt sich in den Kirchenbüchern bis in das Jahr 1559 zurückverfolgen. Mein enges Verhältnis zu Stein am Rhein hat natürlich schon damit zu tun, mehr noch mit der Fischerei und dem Weinbau, die im 20. und im 19. Jahrhundert von meinen Vorfahren und Verwandten betrieben wurden, und mit der Fabulierlust und Geselligkeit, die viele Familienmitglieder kennzeichnet.
Das Kulturleben und der Austausch in der Region hat sich während der letzten Jahre prächtig entwickelt, Museumsnacht und Erzählzeit ohne Grenzen. Wir trafen uns mehrfach in Stein am Rhein zu Führungen, Vernissagen, Lesungen. Wird sich die aktuelle Trennung langfristig auswirken, was meinen Sie?
Ich meine, dass sie sich sogar positiv auswirkt. In der gegenwärtigen Krise schenkt man den Nachbarn plötzlich wieder mehr Aufmerksamkeit, spricht miteinander, erkundigt sich nach dem Befinden, bietet Hilfe an. Das gilt nicht nur für das Quartier und den Wohnort, sondern auch für die Region. Man lernt sich von Neuem kennen und schätzen. Irgendwie bringt Distanz auch Nähe. Und Grenzen können verbinden.