Herr Bosch, Ihr Repertoire ist außerordentlich umfangreich. Es muss Jahre gegeben haben, in denen Sie wenig anderes gemacht haben als Partituren lesen.
Das ist in gewisser Weise bis heute so. Ich versuche eigentlich immer, dass in jedem Programm ein für mich neues Stück gespielt wird.
Wo findet das statt, dieses Partiturstudium, zwischen Professur in München, Chefdirigat in Rostock, Festspiele in Heidenheim, Konzerte in Konstanz, Leben auf Mallorca …?
Oft im Zug. Und natürlich auch in Probenphasen wie jetzt. Wenn ich in Konstanz bin, dann lerne ich nach den Proben neue Stücke – und organisiere, was bei den Opernfestspielen Heidenheim und der Norddeutschen Philharmonie in Rostock passiert…
Welche Rolle spielt Konstanz in Ihrem geografischen Spagat?
Das ist klar definiert, ein Symphoniekonzert im Jahr und die Bruckner-Reihe, auf die ich mich immer besonders freue. Und manchmal eine Oper in Koproduktion mit den Opernfestspielen auf der Mainau…
Wenn man Sie mit diesen großen Symphonien aus dem 19. Jahrhundert hört, hat man oft das Gefühl, dass die Musik schlanker wirkt. Ist das ein Anliegen, eine „Entstaubung“?
Das ist überhaupt kein Selbstzweck, sondern immer Ergebnis dessen, was ich in den Partituren lese. Bei Bruckner schreiben Kritiker oft, dass ich den Stücken keinen falschen Weihrauch gebe, kein falsches Pathos, aber das ist nichts, was ich mir vornehme. Wenn ich Opern oder Sinfonisches lese und mich einer Tradition stelle, dann frage ich mich: Kommt die aus der Musik, aus purem Nachmachen, technischen Schwierigkeiten oder aus Bequemlichkeit? Es kostet Kraft zu sagen: Ich lese das jetzt nochmal ganz neu und schaue mir das ganz unvoreingenommen an – dann kommt oft etwas Schlankeres heraus, als man vielleicht gewohnt ist. Aber manchmal schmunzle ich auch über mich: Wenn ich zum Beispiel Bach am Klavier spiele, bin ich ein heilloser Romantiker.
Worin gründet Ihre Leidenschaft für Bruckner?
Ich hatte mit Bruckner viele persönliche Erlebnisse. Und wahrscheinlich hat es etwas damit zu tun, dass ich in der Kirche aufgewachsen bin. Ich habe mit 14 Jahren die Leitung des Kirchenchors von meinen Eltern übernommen. Vielleicht ist das die tiefere Begründung – dass sich bei Bruckner mein jetziger Beruf und meine alte Welt vereinigen. Der Dirigentenberuf war eigentlich undenkbar in der Welt, aus der ich komme, da gab es Musik nur zur Ehre Gottes, „soli deo gloria“.
Was bedeutet Ihnen die Aufführung im sakralen Raum?
Sehr viel. Lange Zeit war Sakralmusik und besonders Mendelssohns Oratorien für mich die Musik, in der ich mich komplett verlieren konnte, weil da bei mir Glaube und Musik eins wird. Damals habe ich gesagt: Bei der Oper muss ich schauspielern. Das empfinde ich jetzt nicht mehr in dieser Weise, weil ich über die vielen Jahre für die Oper Blut geleckt habe und alle Facetten des Menschseins dort ausgelebt werden.
Bruckner ist ein Komponist für Fortgeschrittene, viele Fassungen, viele Überarbeitungen. Wie halten Sie es?
Ich bleibe bei der Urfassung. Bruckner war durchaus ein seltsamer Mensch, er hat sich ganz leicht verunsichern lassen. Wenn da etwas schwierig war, und die Dirigenten haben sich bei ihm beschwert, dann hat er geändert oder gekürzt. Ich vermisse etwas, wenn nicht die Urfassung gespielt wird, dann fehlt viel vom originären Bruckner.
Gibt es persönlich nach so vielen Profijahren noch diesen Moment emotionaler Überwältigung?
Immer mehr! Ein Werk wie zum Beispiel das Brahms-Requiem kann mich so mitnehmen, diese Tiefe, da öffnen sich alle Schleusen…
Letztlich geht es ja darum, dass es uns berührt.
Ich glaube fest daran, dass jeder Mensch ein Fenster für klassische Musik hat. Das kann dann aufgehen in der Trauer, in der Liebe. Wenn eine Musik dann so dicht ist wie bei Brahms, der lange gebraucht hat bis er überhaupt einen Takt für gültig befunden hat, das ist so etwas Großes … Allen, die da einfach drüber wischen, denen sage ich: Du hast bedauerlicherweise diese Erfahrung noch nicht gemacht. Wenn Du die zum ersten Mal machst, dann wird sich Dein Leben ändern.
Dennoch sind Komponisten wie Bruckner nicht gerade das, was man unter „Easy Listening“ versteht. Wie kann man auch ein junges Publikum dafür begeistern?
Das Verrückte ist: Nehmen Sie eine Schulklasse mit in den Bruckner. Das müssen ja nicht eineinhalb Stunden sein. Gerade bei Kindern, bei denen man es überhaupt nicht dachte, habe ich das so oft erlebt: Die standen da und haben sich förmlich danach gesehnt, so etwas einmal im Leben zu erfahren. Dass Ruhe ist. Dass alle gemeinsam anfangen. Dass ein Klang entsteht und nicht jeder sich in den Vordergrund spielt. In Heidenheim haben wir ein Projekt „Premierenklasse“. Was die Kinder da anschließend äußern, ist erstaunlich. Oft sind es die, von denen man dachte: Die sind am weitesten weg. Aber die waren am nächsten dran.
Müsste das der Weg sein? Machen wir viel zu wenig?
Absolut. Ich glaube, dass wir viel grundständiger zusammengehören. Wissen Sie, die Politik sagt gern: mehr mit Kindern machen. Aber das bedeutet auch weniger Einnahmen, das müsste man dann auch ausgleichen. Einnahmen erziele ich nur mit Erwachsenen im Hochpreissegment.
Als Vorsitzender der Generalmusikdirektoren-Konferenz haben Sie den Überblick: Wie ist die Lage?
Die Kultur ist momentan an vielen Stellen in der Defensive. Man versteckt sich hinter dem neuen Zauberwort „Projektförderung“, aber damit kann man kaum etwas Nachhaltiges schaffen. Es sollte selbstverständlich sein, dass eine Stadt einer gewissen Größe ein Orchester hat und ein Theater, das gehört zu unserer Gesellschaft. Aber es sind unterdessen viel zu wenige in der Politik, die selbst diesen Wert zu schätzen gelernt haben. Ich glaube nicht, dass wir eine humanistische Welt aufrecht erhalten können und technische und intellektuelle Exzellenz erzielen können, wenn wir keine kulturelle Exzellenz haben.
Wie kann eine Lösung aussehen?
Das, was vor Ort passiert, das ist die Zukunft. Vor Ort ein Live-Erlebnis zu schaffen und sich zu überlegen: Wie mache ich das, dass die Menschen ein Bedürfnis haben zu kommen. Dass den Menschen etwas fehlt, wenn sie nicht dabei sind.
Sie haben sehr viel erreicht in diesem Beruf. Gibt es noch Ziele?
Besser werden und mehr private Zeit haben…! Zunächst mal steht aber die Dankbarkeit ganz oben. Und ein bisschen habe ich das Gefühl, dass noch einmal eine neue Phase der Karriere beginnt. Ich habe Einladungen, auf die ich mich sehr freue: Im April kommt der „Holländer“ in Peking, im Dezember mache ich den „Rosenkavalier“ in Innsbruck, 2026 den französischen „Trovatore“ in Wexford, für 2027 habe ich eine Einladung, den „Fidelio“ in Verona zu machen… Und die Professur ist ein unglaubliches Geschenk.