Es ist brüllend heiß in Südbaden. So heiß, dass mancher am liebsten nackt vorm Ventilator ausharren möchte, bis die Hitzewelle vorübergezogen ist. Doch an deutschen Büroschreibtischen, in der Bahn oder im Supermarkt ist Nacktheit unerwünscht. Wer nicht gerade in der Sauna beim 90-Grad-Aufguss schwitzt, als Stripper Geld verdient oder unbedingt noch eine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses kassieren will, bedeckt bestimmte Körperteile.

Alles klar? Nein. Es gibt Streit. Feministinnen fordern mehr Gleichheit beim Nacktsein. Der Nippel wird in der brüllenden Hitze zum Politikum. Soziale Medien zensieren nur die Frauenbrustwarze. Ins Schwimmbad darf ausschließlich der Herr nippelfrei. Ist das unfair? Manche Kommunen erlauben jetzt, dass Frauenbrüste im Freibad blank liegen dürfen. Aber reicht das aus, um der Gleichheit Genüge zu tun?

Mann zeigt Bauch

Viel effektiver als Paragrafen stoppen die Brustfreiheit doch die Angst vor Blicken, ein Gefühl des Unwohlseins, Scham. Mal weg von den Brüsten. Werden Frauenkörper nicht ohnehin viel strenger bewertet als Männerkörper? Nehmen wir Bäuche: Klar, die wenigsten würden angesichts eines kugelrunden Männerbrauchs in Jubel ausbrechen.

Trotzdem hat es die Bauch-Weg-Hose noch nicht ins Standard Herrensortiment von DM und P&C geschafft. Während es in Hülle und Fülle Material zur Wegquetschung und Kaschierung des Frauenbauches gibt. Ein Blick in die Konstanzer Fußgängerzone bestätigt: Wo hier und da füllige Bäuche frei und uneingequetscht unterwegs sind, hängen sie an einem Mann.

Sogar im Berufskontext ist das sich deutlich über einem Bauchansatz abzeichnende Hemd kein Aufreger. Doch wo sind die wohlgenährten Frauenbäuche? Eingequetscht! Oder mit entsprechend geschnittenen Blusen und Kleidern verhüllt. Dünne Bäuche hingegen sind gern gesehen, bauchfrei ist Trend.

Bodyshaming ist bittere Realität

Gleiches Spiel bei den Beinen: dürfen gezeigt werden. Allerdings nur, wenn sie frei von Cellulite und Krampfadern sind und zu keinem Körper gehören, der als übergewichtig gilt.

Ansonsten laufen Bein- und Bauchzeigerinnen Gefahr, mit dem, was Bodyshaming genannt wird, konfrontiert zu werden. Kichern, Blicke, böse Worte. Bittere Realität für Frauen, die ein paar Kilo mehr haben. Dies erleben auch mollige Männer. Aber Frauen trifft es viel stärker. Das belegen zahlreiche Studien.

Der Frauenkörper und seine vermeintlich perfekte Form ist allgegenwärtig, als Bilder auf Instagram, als Film in Werbung und Kino. Als Bauch-weg-Unterhose, Push-up-BH, als hochhackiges Paar Pumps. Zu Produkten gewordene Mahnung, die rufen: „Zeig deinen Körper, wenn er perfekt ist. Oder strecke und forme ihn, bis er passt.“ Quetschen oder schwitzen! Das enge Korsett gesellschaftlicher Wertvorstellungen schränkt die Körperfreiheit ein.

Männer haben die Wahl

Männerkörper gehen befreiter durch die Welt. Sie dürfen Nippel zeigen, Bäuche raushängen lassen und müssen die Krampfadern nicht im Hochsommer mit blickdichten Strumpfhosen verbergen. Natürlich, es gibt männliche Schönheitsideale – und sie sind teilweise mit beinharter Arbeit verbunden, da genügt ein Blick ins Fitnessstudio. Aber: Männer haben eher die Wahl, sich dagegen zu entscheiden, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Warum ist das so?

Der Körper als soziales Mittel

Der US-amerikanische Anthropologe David Gilmore hat sich in den 90er-Jahren mit Männlichkeit beschäftigt und verschiedene Kulturen verglichen. Gilmore sagt: Der Körper ist nicht nur einfach biologischer Körper, er ist auch ein soziales Mittel. Durch so etwas wie Haltung, Mimik, Gestik drücken Menschen aus, zu welcher Gruppe sie gehören. Die Verhaltensweisen sind nicht angeboren – sondern von Kindheit an erlernt. Oder, wie die Philosophin Simone de Beauvoir ihr bekanntes Standardwerk „Das andere Geschlecht“ untertitelte: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“

Wer aus dem Schema ausbricht, muss mit sozialer Ächtung rechnen. Ein Mädchen, das breitbeinig sitzt? Da lassen die Ermahnung von Mutter oder Lehrerin nicht lange auf sich warten. Eine Bodybuilderin, die sich mühevoll Oberarme mit deutlich sichtbarem Bizeps antrainiert hat? Wird außerhalb ihrer fitnessbegeisterten Gruppe garantiert hören, dass sie „zu männlich“ wirke.

Der männliche Blick formt den Frauenkörper

Unsere Kultur drängt uns also subtil in bestimmte Rollen. Und die sind Ausdruck von Macht und Status. Der Soziologe Pierre Bourdieu hat als einer der ersten Sozialwissenschaftler überhaupt den Körper zum Zentrum einer ganzen Gesellschaftstheorie gemacht. Er geht davon aus: Im Patriarchat wird der Frauenkörper vom, wie er ihn nennt, männlichen Blick bestimmt und geformt. Der Frauenkörper ist unfreier, ist beherrscht. Weil die Rolle der Frau die der Beherrschten ist.

Das Perfide an der ganzen Sache ist, dass auch weibliche Wesen mit diesem männlichen Blick auf die Welt schauen – und auf ihre Brüste und die anderer Frauen, auf ihre Bäuche und Vaginen, Nippel und Damenbärte. Das Herrschaftssystem funktioniert so gut, weil alle daran glauben, sagt Bourdieu.

Auch Männer müssen sich anpassen und laufen Gefahr, verhöhnt zu werden, wenn sie sich nicht „männlich“ verhalten. Ein Student, der Eyeliner nutzt, mag im Hörsaal oder auf einem Poetry-Slam mit akademisch geprägtem Klientel dafür Anerkennung erhalten, weil er die Norm bricht. In den meisten anderen Kontexten nicht. Und sind wir mal ehrlich: Die Zentren der Macht in unserer Gesellschaft sind immer noch Politik und Wirtschaft. Man stelle sich dort einen Mann mit rasierten Beinen (der kein Profiradler ist), im BH, geschminkt, bauchfrei vor. Der Hass, den queere Menschen erleben, kann also als eine Form dieser sogenannten strukturellen Gewalt gesehen werden.

Die Scham grätscht dazwischen

Doch zurück zu den eingequetschten Frauenkörpern. Wenn Frauen darunter so sehr leiden, könnte man nun fragen, warum nehmen sie sich in einer Welt, in der Feminismus so ein Ding ist und das Patriarchat ohnehin bald abgeschafft, nicht einfach die Freiheit? Und selbst wenn von einigen Machos Sprüche kommen, sollte eine Frau mit feministischem Anspruch dann nicht erst Recht den Mut haben, barbusig bei Hitze flanieren, die Bauch-Weg-Hosen verbrennen, Cellulite an die Luft und all das Gezupfe, Gequetsche und Gepinsele einfach sein lassen?

Argumentiert man mit Bourdieu, lautet die Antwort: So einfach ist es nicht. Der größte Endgegner für das feministische Projekt wären gar nicht die Machos, sondern die eigene Scham. Und die, jetzt wird es richtig fies, ist laut dem Theoretiker kein natürliches Gefühl. Sondern auch von sozialen Normen gemacht. Die Scham ist umso größer, je stärker der Körper vom Ideal abweicht. 2021 fand eine Studie der Oklahoma State University unter übergewichtigen Menschen heraus: Frauen schämen sich viel stärker für Bauchfett. Obwohl die männlichen Studienteilnehmer übergewichtiger waren, so Studienleiterin Natalie Keirns, „konnten wir nicht denselben Zusammenhang mit der psychologischen, sozialen Stigmatisierung feststellen.“

Die feministischen Gedanken können noch so groß sein, im Zweifel grätscht die Scham dazwischen. Die junge, schlanke Studentin mit den Apfelbrüsten, die im Schwimmbad blank zieht, müsste weniger Scham überwinden, als die etwas ältere Frau mit Cellulite und Hängebrust.