So viele Ungeimpfte! Woher kommt nur dieser Trotz gegen alle wissenschaftliche Vernunft? Die Ursachen sind zahlreich, im Team „Verweigerer“ spielt der Spitzenfußballer Doppelpass mit dem Öko-Esotheriker, der Reichsbürger marschiert Seit‘ an Seit‘ mit einer Ikone der Linkspartei. Nicht alle hängen Verschwörungstheorien an, bei manchen bestehen ernst zu nehmende Ängste oder gesundheitliche Probleme.
Die Gruppe, die uns am meisten zu denken geben sollte, ist aber jene der Unauffälligen: grundsätzlich aufgeklärte Normalbürger, auf dem Boden der Verfassung stehend, durchschnittlich gebildet, kerngesund, gut informiert. Und trotzdem dagegen.
Der Blogger Sascha Lobo macht in dieser Gruppe einen „weinerlichen Wellness-Widerstand“ aus. Es handele sich um Leute, sagt er, die sich angesichts von Diskriminierungsdebatten wie MeToo und Black Lives Matter „endlich auch einmal wichtig, besonders, opferhaft fühlen“ wollen. Wem es an „so richtig protestierenswerter“ Diskriminierung mangele, dem bleibe eben nur, unter Ausblendung aller wissenschaftlichen Erkenntnisse „die fahle Gelegenheit, endlich auch massiv herumzuopfern“. Ich glaube, da ist was dran.
Allerdings halte ich mehr davon, solche Phänomene verstehen zu wollen, statt sie nur zu verurteilen. Es ist ja nicht so, dass Debatten über Benachteiligungen oder Proteste gegen Vorschriften ein Novum in der Geschichte unserer Republik wäre. Allerdings wäre wohl niemandem jemals eingefallen, etwa den 1976 entfachten Sturm gegen die Einführung einer Anschnallpflicht in Autos als Reaktion auf Alice Schwarzers Buch „Der kleine Unterschied“ zu deuten. Sollte es also tatsächlich eine grassierende Sehnsucht nach Opferidentität geben: Woher kommt das?
Lebensnahe Antworten auf gesellschaftsethische Fragestellungen gibt der Humanist Michel de Montaigne. Tugend, lese ich bei ihm, könne „zum Laster werden, wenn wir zu gierig und heftig nach ihr greifen“. Der Schütze verfehle „ebenso sein Ziel, wenn er zu weit schießt, wie wenn er zu kurz schießt“. Nur wer die Kunst der Mäßigung beherrscht, trifft ins Schwarze.
Was geschieht, wenn es an dieser Mäßigung fehlt, beschreibt die Sozialforschung als „Reaktanz“: aus Verantwortung wird Flucht, Einsicht weicht Trotz. Ein aus Diskriminierungsdebatten resultierender „Wellness-Widerstand“ erweist sich vor diesem Hintergrund als Symptom einer aus dem Ruder gelaufenen, buchstäblich maßlosen Tugendkultur.
Anders als zur Zeit des „kleinen Unterschieds“ trifft uns der Gleichberechtigungsdiskurs rund um die Uhr. Sogenannte soziale Netzwerke liefern mit nie dagewesener Dauerbeschallung einen Überbietungswettbewerb der Moralhüter ins Haus. Und spätestens, wenn sich eine banale Frage nach Herkunft oder breitbeiniges Sitzen in der U-Bahn zum Anschlag auf die Menschenwürde auswächst, setzt selbst im ausgeglichensten Geist die Suche nach eigenen Alltagsproblemchen ein: Auch ich habe schlecht geschlafen! Könnten wir mal über die Zumutung sprechen, dass mich der Staat zum Impfen drängt?
Kennt Gier nach Tugend keine Grenzen, wächst die Reaktanz. Wer sie ernsthaft bekämpfen will, sollte bei sich selbst beginnen: mit Abrüstung.