Frau Assmann, wie geht es Ihnen heute?

Marlene Assmann: Es geht mir gut, Danke.

Meine Frage hat den Hintergrund, über den Sie in Ihrem Graphic Memoir „Alles gut? Alles gut“ berichten: Ihre Erkrankung an Glioblastom, einem bösartigen Tumor.

Assmann: Ja, das war ein großer Schreck. Es war die einzige Hirntumorart, die mir etwas gesagt hat, weil ich den Trailer für einen Film geschnitten habe, der Glioblastom heißt. Ich habe die Regisseurin gefragt, was das heißt und sie erklärte, dass es ein ganz fieser Hirntumor wäre, ein ganz sicherer Tod. An einen ganz sicheren Tod habe ich nie geglaubt, aber der Schreck hätte nicht größer sein können.

Einer ihrer Ärzte meinte, Sie sollten nicht googeln, weil Sie den Kampf gegen diesen fiesen Tumor sowieso nicht gewinnen könnten. Eine Ärztin äußerte sich noch direkter, Sie würden an der Krankheit sterben…

Assmann: Die Aufforderung, nicht zu googeln, war nett gemeint: Der Arzt hat gesagt, dass wir im Internet nur den Durchschnitt aller Patienten finden. Inklusive jenen, bei denen eine Operation nicht möglich war oder bei denen die Therapie nicht durchgeführt werden konnte. Meine Überlebenszeit wäre länger, als die Statistik im Internet.

Das Aufklärungsgespräch hingegen hat mit den Worten der Onkologin begonnen, dass ich an dem Tumor sterbe. Dann hat sie uns zu einer Abtreibung geraten, denn kein Vater ziehe gern ein mutterloses Kind auf. Meine vier Geschwister und meine Mutter standen hinter meinem Mann und mir, lauter Menschen, die sich auf das Kind gefreut haben.

Wie geht man mit sowas um?

Assmann: Wäre es bei der Meldung geblieben, hätte ich es vielleicht hingenommen. Wir haben uns eine Zweitmeinung in Heidelberg eingeholt und erfahren, dass dort an genau meiner Tumorart geforscht wird und sie eine Studie für mich haben. Das weckte Hoffnung, die uns von der Berliner Onkologin direkt wieder genommen wurde mit der Aussage, dass es schon hunderttausend Studien gab, von denen keine etwas gebracht hätte.

Etwas später sind meine Blutwerte gefallen, ich musste die Chemotherapie absetzen und ihrer Aussage nach auch die Bestrahlung. Ich wusste, dass meine Überlebenszeit am kürzesten ist, wenn die Bestrahlung nicht beendet werden kann. Mein Mann und ich sind zur Radiologie gegangen, um uns zu verabschieden, haben dort aber erfahren, dass ich bis zu viel geringeren Werten bestrahlt werden kann. Es war eine Fehlinformation!

Da beschlossen wir, nach Heidelberg zu ziehen, um uns nicht ein weiteres Mal von dieser Ärztin entmutigen zu lassen. Mein Umgang war also der Wechsel zu einem Arzt, bei dem ich mich gut aufgehoben gefühlt habe und letztlich auch die Zeichnungen im Buch, mit denen ich mir die Aussagen der Ärztin von der Seele gezeichnet habe.

Sie lebten und arbeiteten mit ihrem Partner Tony im Libanon, Sie als Cutterin, er als Grafiker, als Sie schwanger wurden. Noch während der Schwangerschaft zeigten sich erste Symptome ihrer Krankheit. Sie kehrten nach Deutschland zurück. Sie mussten nicht nur um ihr eigenes Leben fürchten, sondern auch um ihren ungeborenen Sohn. Irgendwann haben Sie „Marlene die Starke“ herausgeholt?

Assmann: Richtig, es ging gleich um zwei Leben. Doch ich hatte das Glück, dass mein Tumor auch auf mein Angstzentrum gedrückt hat. Ein Symptom war, dass ich keinerlei Angst hatte. Erst als der Tumor nicht mehr in meinem Kopf war, kam Angst zurück in mein Leben. Nach dem schockierenden Ausklärungsgespräch mit der Onkologin habe ich „Marlene die Starke“ herausgeholt. Etwas anderes blieb mir nicht übrig, denn ich wollte leben.

Sie haben während der Schwangerschaft mit den ersten Skizzen zu dem autobiographischen Comic begonnen. Geschah das aus einem spontanen Impuls heraus?

Assmann: In der Schwangerschaft wurde mir geraten, Briefe an mein ungeborenes Kind zu schreiben, doch das konnte ich nicht. Als ich das Baby etwas später kennen und lieben gelernt hatte, wollte ich ihm unbedingt etwas hinterlassen. Es gibt diesen Film „Football Under Cover“, in dem wir mit unserem Berliner Fußballteam nach Teheran reisen und gegen das iranische Nationalteam der Frauen spielen. Marlene, die Frauenfußballaktivistin, würde er kennenlernen. Aber was ist mit Marlene, seiner Mutter?

Die Zeichnungen und Textblasen Ihrer Graphic Memoir richten Sie direkt an Ihren noch ungeborenen Sohn: „Deine Mama hat etwas im Kopf, was da nicht hingehört“. Das zu schreiben muss auch ein Kraftakt gewesen sein. Sie schluckten in der Zeit Chemotabletten, erhielten Bestrahlungen…

Assmann: Ich konnte nur zeichnen, wenn ich keine Todesangst hatte. Mit Todesangst konnte ich nur meditieren, kalt duschen oder spazieren gehen. Ich hatte viel Zeit, das Buch zu überarbeiten, denn meine Agentin fand lange keinen Verlag. Den von Ihnen angesprochen Text habe ich eines Nachts geschrieben und wurde beim Aufwachen von Luka gefragt: Mama, was hast Du in Deinem Kopf? Diese Frage war ein großer Schreck, bis ich verstand, dass er nur meine Ohrstöpsel meinte. Also war er da schon mindestens drei Jahre alt und ich hatte genug Abstand, um ihm unsere damalige Situation schildern zu können.

Ihr Sohn Luka ist kerngesund auf die Welt gekommen. Noch ein Wunder?

Assmann: Mein Mann und ich wurden sowohl von unserer Hebamme, als auch von unserem Frauenarzt bei jedem Termin beruhigt, dass es dem Kind gut geht. Deswegen habe ich es nicht als Wunder wahrgenommen, dass er gesund ist. Jedoch wurde er drei Wochen zu früh per Kaiserschnitt geholt, in Anwesenheit von Kinderärzten, für den Fall, dass er medizinisch versorgt werden muss. Dass er vom ersten Tag an so voller Leben, Liebe und munter war, das war wirklich noch ein Wunder.

Sie haben über die Geburt hinaus weiter gezeichnet und getextet. Sie haben nicht alle Skizzen ins Buch übernommen, las ich im Stern-Beitrag Ihrer Freundin Ruth Fend aus Konstanzer Zeit über Ihre Erkrankung, „weil es Luka nicht helfen würde“. Haben Sie das Gefühl, dass ihr Buch Ihrem Sohn in irgendeiner Weise geholfen hat?

Assmann: Mein Sohn kennt natürlich mein Buch, doch er interessiert sich wenig dafür. Es ist aber auch kein Kinderbuch. Bisher hat es in erster Linie mir geholfen. Im Prozess musste ich mich allem, was wir erlebt haben, noch einmal stellen. Auch wenn letztlich nicht jede Zeichnung im Buch gelandet ist, zwang mich das Buchprojekt alle Situationen noch einmal zu durchleben. Darüber hinaus habe ich von vielen Lesenden die Rückmeldung bekommen, dass sie sich in den Zeichnungen wiederfinden konnten. In den unterschiedlichsten Lebenslagen sind die Kernsituationen und -emotionen doch dieselben.

Was mich an Ihrem Buch bestürzte und gleichermaßen faszinierte, war die Offenheit, mit der Sie ihre Krankheit schildern, wie sie über ihren verwundeten, ja geschundenen Körper schreiben. Dazu gab es keine Alternative aus Ihrer Sicht?

Assmann: Bis zur Veröffentlichung des Buchs wusste nur ein enger Kreis um mich von meiner Erkrankung. Damals dachte ich, ich wäre die jüngste Tumorpatientin überhaupt. Doch mit Beginn der Immuntherapie verbrachte ich mehr Zeit im Krankenhaus und habe gesehen, dass dies nicht stimmt, was in mir Fragen aufwarf: Warum ist das Krankenhaus voller junger Patienten, die in der Gesellschaft nicht auftauchen? Und noch wichtiger: Warum verstecke auch ich meine Krankheit?

Da wurde mir klar, dass diese Krankheit mit der Verantwortung kommt, zu meiner Krankheit und meinem „geschundenen“ Körper zu stehen. Schon immer hatte ich den Gedanken, nicht „schön genug“ zu sein, nach der Diagnose wurde mir bewusst, wie wenig „Schönheit“ über mich aussagt. Ich wollte mich nie wieder „nicht schön genug“ finden, doch durch die Krebstherapie wurde dieses Problem erstmal nicht kleiner.

Als mein Sohn anfing, sich im Spiegel zu erkennen, hat er sein Spiegelbild ganz uneingeschränkt geliebt, das fand ich toll. Ich habe mich für meine Glatze vor ihm geschämt, dabei hat er sie gar nicht wahrgenommen. Man muss nicht krebskrank sein, um die eigenen Schönheitsideale nicht zu erreichen. Es ist ein Gedanke, den ich mit vielen „gesunden“ Menschen teile.

Ihre Familie wich keinen Moment von Ihrer Seite. Dieser Rückhalt gab Ihnen mindestens soviel Kraft wie die Therapien?

Assmann: Genau. Natürlich war mein plötzlicher bösartiger Hirntumor ein riesiger Schock für uns alle, mein Mann und meine Geschwister ließen sich beurlauben, um bei mir im Krankenhaus zu sein. Auch meine Eltern kamen. Plötzlich war unklar, wie lange ich noch zu leben habe und da war die Nähe für uns alle eine Therapie.

Das war ganz natürlich und ich dachte, es wäre normal, bis ich ein paar Jahre später von anderen Hirntumorbetroffenen erfahren habe, dass sie in der ersten Krankheitsphase von ihren Partnern verlassen wurden. Wie traurig! Gemeinschaft stärkt und erleichtert schwere Zeiten. Die ersten drei Jahre war mein Mann bei jedem Krankenhausbesuch dabei, dann kam Corona, und ich musste alleine zu meinen Terminen gehen. Zum Glück bin ich nicht in dieser Zeit erkrankt.

Es gibt Theorien, die von einer therapeutischen Wirkung des Schreibens sprechen. Würden Sie das auch für Ihr Zeichnen und Schreiben reklamieren?

Assmann: Ja, auf jeden Fall. Schon bald habe ich gemerkt, wie gut mir das Zeichnen tut. Auch mit meinem veränderten Körper umzugehen, gezeichnet auf Papier wirkt alles gar nicht mehr so schlimm. Zeichnen schafft eine Distanz zwischen mir, die zeichnet, und der Figur, die ich zeichne. Es gibt Sätze, das kennt wohl jeder, die nicht aufhören, einem durch den Kopf zu spuken.

Der Vorschlag, das Kind abzutreiben, ließ mich immer wieder emotional werden, obwohl das Kind, um das es ging, längst geboren war. Erst als ich die Szene gezeichnet hatte, war der Satz aus meinem Kopf. Das gilt auch für die ganze Geschichte. Jetzt muss ich sie nicht mehr in mir tragen, ich kann sie auch einfach mal ins Bücherregal legen.

Sie sind seit fünf Jahren „krebsfrei“. Ist auch das Denken krebsfrei?

Assmann: „Krebsfrei“ ist richtig, allerdings verdanke ich das der besagten Studie, sie hat mein Rezidiv abgebaut. Diese Studie ist längst abgelaufen, doch meine Krankenkasse zahlt, so lange das Medikament wirkt. Alle drei Monate habe ich also noch einen Krankenhaustag in Heidelberg, ergänzt von regelmäßigen Kontroll-MRT, also Magnetresonanztomographien.

Jahrelang hatte ich das Gefühl, nach jedem MRT drei Monate „auf Bewährung“ frei zu sein. „Krebsfrei“ zu denken heißt für mich, dass ich entspannt zu den MRT-Untersuchungen gehen kann und das war in den letzten Jahren der Fall. Allerdings schreibe ich weiter zum Thema, mein aktuelles Projekt trägt den Arbeitstitel „Bewusst durch die Krebstherapie“ und wendet sich direkt an Betroffene.