Liebes Amerika,

du musst von uns viel Besserwisserei ertragen. Weil dein Gesundheitssystem zu schwach ist, deine Wirtschaft zu stark und dein Präsident zu schrill. Du darfst das nicht persönlich nehmen, Besserwisserei ist bei uns Deutschen so eine Art Volkssport.

Nur sinnlose Aufregung

In der Coronakrise vertreiben wir uns die Zeit damit, uns über Menschen aufzuregen, die Ausgangsbeschränkungen ignorieren. Um anschließend wiederum diejenigen, die sich darüber aufgeregt haben, für ihre Selbstgefälligkeit zu kritisieren. Woraufhin wieder andere einen Grund finden, jene zu maßregeln, die Kritiker dafür rügen, dass sie sich herablassend gegenüber Dritten äußern. Und so weiter.

Du darfst bei diesem Sport nicht nach Ergebnissen fragen. Es gibt weder Gewinner noch Verlierer, nur sinnlose Aufregung, aber genau das mögen wir Deutsche.

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Wenn wir über dich sprechen, liebes Amerika, dann geht es meist um deinen Liberalismus. Das ist gut so, schließlich haben wir ihm unsere eigene freiheitliche Grundordnung zu verdanken. Als wir die Welt in Schutt und Asche gelegt hatten, trautest du uns einen Neuanfang auf dem Fundament dieser Werte zu: Ich wünschte, dass wir dir das nie vergessen. Sicher bin ich mir nicht.

Denn die Art und Weise, in der wir über deinen Liberalismus sprechen, ist überheblich. Zum Beispiel deine Waffengesetze: Wie kann man nur so dumm sein, Pistolen und Gewehre mit einer Sorglosigkeit unters Volk zu bringen, als handele es sich um Kaugummis?

Ungemein liberal

Wenn es um unsere eigenen Waffen geht – die PS-Geschosse auf der Autobahn –, sind wir weniger streng. Rasen, dass es kracht: Dieses Recht wollen wir uns nicht nehmen lassen, da fühlen wir uns ungemein liberal.

Auch wie ein Gesundheitssystem auszusehen hat, wissen wir sehr genau. Solidarisch muss es sein, damit jeder ausreichend versorgt ist. Ja, das grenzt für dich an Sozialismus. Du findest: Wo kommen wir hin, wenn der fleißige Unternehmer für die Zahnwurzelbehandlung des faulen Taugenichts aufkommen soll?

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Wir Deutsche halten das für unbarmherzig. Aber nur, solange nicht in einer Finanzkrise jemand Eurobonds fordert, also die Vergemeinschaftung von Schulden. Dann sind wir es, die „Sozialismus!“ rufen.

Liebes Amerika, wir haben von dir viel lernen dürfen, mal warst du Vorbild, mal mahnendes Beispiel. Wenn du jetzt von uns etwas lernen kannst, dann nicht, weil wir alles besser wissen, sondern wegen einer logischen Erklärung. Von einem solidarischen Gesundheitswesen profitieren alle: Auch der Reiche schützt sich vor einer Infektion am besten, indem er dem Armen eine Behandlung ermöglicht.

Mangelhaftes System

Ich wünsche dir, dass du trotz deines mangelhaften Systems die Infektionsrate in den Griff bekommst. Wie ich auch für uns um einen glimpflichen Ausgang der Krise bange. Und wenn wir sie überstanden haben, denken wir über ein gemeinsames Konzept gegen künftige Pandemien nach: auf liberalen, aber solidarischen Grundwerten.


Mit freundlichen Grüßen

Johannes Bruggaier, Kultur-Redaktion