War da mal was mit Corona? Bei den Bregenzer Festspielen könnte man die Pandemie glatt für ein Ereignis aus den Geschichtsbüchern halten. Dichtes Gedränge vor den Sektständen wie auf der Besuchertribüne. Maske tragen die Allerwenigsten. Als ausreichend geschützt gilt man bereits mit dem ersten Impftermin (wenn auch erst nach 22 Tagen). Ein Nachweis wird am Eingang zwar kontrolliert, den Personalausweis aber darf man gestrost stecken lassen. Naa, des basst scho‘!
Am Donnerstagabend war Premiere auf der Seebühne, dort darf Verdis Narr Rigoletto nach 2019 einen weiteren Sommer lang um die Ehre seiner Tochter kämpfen. Es bietet sich also noch einmal die Gelegenheit, eines der spektakuläreren Bühnenbilder in der Bregenzer Festspielgeschichte zu bestaunen: Der 13 Meter hohe Clownskopf mit seinen beiden filigranen Händen zeigt dank einer ebenso aufwendigen wie ausgefeilten Hydraulik das ganze Spektrum menschlicher Gefühle – mancher Kritiker sprach bereits von einer neuen Zeitrechnung in Sachen Bühnentechnik.
Und doch, ein mulmiges Gefühl lässt sich in all der sommerlichen Unbeschwertheit nicht verhehlen. Drüben in Salem wird das Openair komplett abgesagt, derweil sitzt man auf der österreichischen Seite des Bodensees mit fast 7000 Menschen mehr als zwei Stunden beisammen. Zwar gelten alle als geimpft, genesen oder negativ getestet: Erst am vergangenen Wochenende jedoch hat es bei den Salzburger Festspielen trotzdem einen Coronafall gegeben, seither ist das Tragen von FFP2-Masken dort wieder Pflicht.

Künstlerisch lohnt sich die Fahrt nach Bregenz in jedem Fall. Nicht so sehr wegen der musikalischen Darbietung: Dass es für klangliche Feinheiten und differenzierte Intonation geeignetere Orte gibt als ein Gewässer, hat sich schon vor längerer Zeit herumgesprochen. Die Vorzüge der Seebühne liegen in der stimmungsvollen Naturkulisse und technischen Möglichkeiten. Bregenz, das ist für Theaterregisseure und Bühnenbildner ein wahrer Abenteuerspielplatz. Die einzige Gefahr: Man kann sich darin verirren.
Der Clownskopf zum Beispiel. Trägt so ein Gesicht wirklich über einen ganzen Abend? Macht sich Regisseur Philipp Stölzl nicht zum Gefangenen seines eigenen Bühnenbilds?

Nein, das tut er nicht. Denn zu welchem Mienenspiel, zu welcher Ausdrucksvielfalt dieser vermeintlich so hölzerne Clown in der Lage ist, vermag man kaum zu glauben. Verdis Tragödienhandlung vom traurigen Narr, der seine Tochter vergeblich vor allem Bösen zu beschützen versucht, wird so zu einem wahren Psychodrama.
Es scheint, als spiele sich das alles allein im Kopf ab: ein Narr fantasiert sich eine Tochter herbei, lässt sie buchstäblich aus seiner riesigen rechten Hand entschlüpfen wie ein Vögelchen aus seinem Ei. Er spielt durch, wie das wohl wäre, so als luftiger Possenreißer einmal tatsächlich Verantwortung zu übernehmen. Und erkennt nach und nach, in welche gesellschaftlichen Abgründe ihn eine solche Aufgabe führen müsste. Welche Gefahren und Widersprüche das Vatersein mit sich bringt, wie schnell das Glücksgefühl in Angst umschlägt.
So mutiert das gutmütige Gesicht zum Antlitz eines wahren Racheengels, als die höfische Gesellschaft nach und nach Augen, Nase und Zähne herausmeißeln. Bei der Premiere am Donnerstag wird dieser verstörende Prozess am Horizont auch noch von einem Wetterleuchten begleitet: So eindrucksvoll mischt sich der Himmel nur bei den Bregenzer Festspielen ins Geschehen ein.
Es gibt also sehr gute Gründe, den Weg nach Vorarlberg anzutreten. Es gibt aber durchaus auch welche, es in diesem Jahr lieber noch mal sein zu lassen. Die einen haben mit den anderen zwar rein gar nichts zu tun: Einfacher macht das die Entscheidung aber nicht.
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