Es gibt da dieses Sprichwort: Was lange währt, wird endlich gut. Eigentlich ein gutes Zeichen für Arrigo Boitos „Nero“. Mehr als 50 Jahre lang hat sich der italienische Librettist und Komponist Boito (1842-1918) mit dem römischen Kaiser befasst und damit, dessen Schreckensherrschaft und die Dekadenz einer gesamten Epoche in ein Werk zu gießen. Und es sollte nicht irgendein Werk werden. Boito schwebte die Erneuerung des italienischen Musiktheaters vor, eine Art ästhetischer Revolution also.
Doch weil er die Messlatte so hoch gehängt hatte, wuchsen wohl auch die Hemmungen. Er verpasste den Zeitpunkt für die Uraufführung. Das Stück wollte nicht recht fertig werden. Und als es 1924 – Boito war bereits darüber gestorben – in Mailand endlich mit vier statt fünf Akten auf die Bühne kam, war es gewissermaßen ein alter Hut. Das Publikum fremdelte mit dem „altgeborenen“ Erzeugnis des eigentlich geschätzten Künstlers, den man auch als Librettist von Verdi kannte. Und dabei blieb es: „Nero“ setzte sich auf den Spielplänen nicht durch.
Zeit also für eine Neubefragung. Diese übernahmen nun die Bregenzer Festspiele. Sie wollten wissen, ob das, was einst lange währte, aus heutiger Perspektive nicht doch noch gut geworden ist. Unter der musikalischen Leitung von Dirk Kaftan und in der Regie von Olivier Tambosi war das Stück zur Eröffnung der Festspiele im Festspielhaus zu sehen, die letzte Aufführung ist am 2. August.

Bereits zu Lebzeiten eilte Boito der (in Italien zweifelhafte) Ruf voraus, ein Wagnerianer zu sein und sich einer allzu deutschen, intellektuellen Musiksprache zu bedienen. Im Zuge der Uraufführung von „Nero“ war gar von „germanischer Bedrohung“ die Rede. Tatsächlich schwebte Boito ähnlich wie Wagner ein „Gesamtkunstwerk“ vor, in dem Musik, Text und Bühne eine unauflösbare Einheit bilden sollten. Auch in der Musiksprache kann man einige Wagnerismen erkennen, insbesondere dann, wenn Boito dessen Weichzeichner der Verklärung nutzt. Boito als Wagner-Epigonen zu bezeichnen, griffe allerdings viel zu kurz.
In „Nero“ steckt ziemlich viel unterschiedliche Musik. Im Grunde ist es ein Patchwork aus unterschiedlichen Strömungen und gerade das macht das Werk zu einem Solitär in der italienischen Operngeschichte. Man kann Wagner darin entdecken, aber auch italienische Oper, Puccini, viel Fin de Siècle inclusive Richard Strauss, und hier und da blitzt auch das 20. Jahrhundert hervor. Vor allem aber greift Boito tief in die Effektkiste. Und das kann er richtig gut – was in Bregenz auch Dirk Kaftan mit den Wiener Symphonikern und dem Prager Philharmonischen Chor aufs Schönste unter Beweis stellt.

Die Figur des Nero hatte es Boito offenbar angetan. Er zeigt sie als schillernde Gestalt, als Wahnsinnigen, der gerne in Blut und Grausamkeiten badet, dann aber wieder klein und ängstlich den Zuspruch seines Vertrauten Tigellino (Miklós Sebestyén) sucht, um sich an die Öffentlichkeit zu wagen. Zudem treibt ihn der Mord an seiner eigenen Mutter um und bringt ihn an den Rand des Wahnsinns. Obwohl Nero rein szenisch nicht die Oper dominiert, hält Boito für ihn doch die dramatischsten und effektvollsten Passagen bereit. Rafael Rojas gibt ihm mit kräftigen Tenor Gewicht und Körper.
Nero beigesellt ist mit Asteria (kraftvoll strömender Sopran: Svetlana Aksenova) eine ähnlich schillernde Figur, die sich von Neros zerstörerischer Aura magisch angezogen fühlt, sich aber auch auf dessen beide Gegenspieler einlässt. Diese bilden zwei Gegenpole: Simon Mago (Lucio Gallo), heidnischer Priester, Betrüger und Menschenfeind, strebt nach Macht; Fanuèl (Brett Polegato) hingegen, christlicher Prophet, ist genauso wie die Vestalin Rubria (Alessandra Volpe) zum Märtyrertod bereit.
Boito hatte nichts weniger als den geschichtsphilosophischen Entwurf einer Zeitenwende vor Augen, in der der Konflikt zwischen alter römisch-heidnischer und neuer christlicher Welt ausgetragen wird. Und möglicherweise sah er darin auch die eigene Zeit gespiegelt. Dass sein Text wie ein bedeutungsschwangeres Raunen bisweilen etwas vernebelt daher kommt, erschwert den Zugang zu dem Stück. Doch hier hätte ja die Regie Hilfe verschaffen können.
Ein bisschen Zwanzigerjahre
Regisseur Olivier Tambosi ist dazu jedoch nicht bereit. Selbstverständlich sind zwar die enorme Ausstattung und die Statisterie auf das Notwendigste reduziert. Doch worauf Tambosi in seiner Inszenierung eigentlich abzielt, bleibt völlig unklar. Teils zitiert er die Zwanzigerjahre in Kostümen (Gesine Völlm), Requisiten wie einem Grammophon oder stummfilmartigem Augenrollen, teils greift er zu klischeehafter Überspitzung, etwa wenn der Christ Fanuèl mit Dornenkrone gezeigt wird oder der Magier Simon Mago die Frisur eines Snape aus den Harry-Potter-Filmen trägt. Frank Philipp Schlösselmanns Drehbühne mit den hohen Wänden und kalten Leuchtröhren zielt wiederum auf Zeitlosigkeit.
Besonders bedauerlich aber ist, dass das Bühnengeschehen in Tambosis Deutung kaum Spannung entwickelt, einen völlig kalt lässt und ähnlich disparat wirkt wie die Vorlage. Ja, sogar ähnlich überholt: Sein verrätselter, mit mancherlei Symbolen arbeitender Regietheaterstil (ein Billiardtisch als Altar, der Möchtegern-Magier mit Krücken), der kaum einen intuitiven Zugang zulässt, wirkt inzwischen doch eher aus der Zeit gefallen, bisweilen sogar unfreiwillig komisch. Kein Wunder, dass Tambosi beim Beifall die einzigen Buhs einstecken muss. Eigentlich hatte der Regisseur durch die Corona-Verschiebung ein Jahr mehr Zeit für seine Arbeit an dem Stück. Doch was lange währt, wird eben doch nicht automatisch gut.
LetzteVorstellung: 2. August. Infos zu Programm und Hygieneregeln: http://www.bregenzerfestspiele.com