Kunstwerke soll man nicht berühren. Das weiß jedes Kind, sicherheitshalber weisen den Museumsbesucher Schildchen manchmal dezent darauf hin. Heute jedoch verleibe ich mir – mitten im Museum! – ein Kunstwerk ein: buchstäblich und ungehindert.

Genüsslich lege ich es mir auf die Zunge. Lasse es seinen Geschmack entfalten. Und spüre, während es die Speiseröhre hinunter gleitet, den Aromen nach. Niemand schreitet ein. Der Museumswärter tut so, als habe er nichts gesehen. Und die Umstehenden sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Denn auch sie konsumieren Kunst.

Einfach mal reinbeißen: Im Basler Museum Tinguely ist das möglich.
Einfach mal reinbeißen: Im Basler Museum Tinguely ist das möglich. | Bild: ©Foto2020 Daniel Spehr

Wir sind im Tinguely Museum in Basel, wo Marisa Benjamin Häppchen zubereitet hat. Häppchen ist eigentlich zuviel gesagt, so klein sind die je zwei ve­getarischen Stückchen, die sie für Besucher auf Probierteller gelegt hat: geradezu winzig, man möchte von Nouvelle Cuisine der verschärften Art sprechen.

Auf meinem Teller hat Marisa Benjamin an einem orangefarbenen Fruchtstückchen und einer dunklen Beere Blütenblätter von zierlich kleinen Blumen appliziert. Das Kunstwerk, auch ein Augenschmaus, schmeckt – ein bisschen fruchtig, ein wenig blumig und entfaltet im Abgang eine leicht erdige Note.

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Nicht schlecht, denke ich, für den Anfang. Denn in der Ausstellung „Amuse-bouche“ gibt es noch mehr zu sehen beziehungsweise zu schmecken. An verschiedenen Stationen des Parcours wird die Ausstellung zur Degustation. So kredenzt das Museum dem Besucher, wenn er eine „interaktive Führung“ in der Gruppe gebucht hat, Schokolade und Eiskonfekt, Sauerkrautsaft oder ein speziell gebrautes Bier.

Teil eins von Sam Taylor Johnsons Stilleben nach klassischer Art...
Teil eins von Sam Taylor Johnsons Stilleben nach klassischer Art... | Bild: Sam Taylor-Johnson

Der „gewöhnliche“ Museumsgast geht gustatorisch weitgehend leer aus. Nur am Zuckerrohrschnaps des brasilianischen Künstlerkollektivs Opavivará! darf er nippen – ein Moment der Überwindung: Mit boshafter Pointe sprudelt die Spirituose in einem Bidet, Plastikbecher stehen bereit, um den Rachenputzer aufzufangen. Am Ende des Rundgangs darf sich jeder Besucher noch an einer Pyramide aus Orangen bedienen und eine Südfrucht mit nach Hause nehmen.

...und hier Teil zwei, ein paar Wochen später.
...und hier Teil zwei, ein paar Wochen später. | Bild: Sam Taylor-Johnson

Wie ist es nun, Kunst mit der Zunge zu genießen? Welchen Geschmack hat sie? – Kurz gesagt: einen ganz unterschiedlichen, aber um ehrlich zu sein hat sich die Sensation rasch abgenutzt. Ein Aha-Erlebnis des vollkommen Neuen, Anderen jedenfalls bleibt aus. Kunst schmeckt dann irgendwie doch so, wie man es schon kannte: der Zuckerrohrschnaps leicht süßlich, Elizabeth Willings Lebkuchen an der Wand (knusper, knusper, knäuschen…) wie ein gewöhnlicher Lebkuchen. Das farblose Pflanzen- und Früchtedestillat von Claudia Vogels „Tastescape“ erfreut mit einer duftig-frischen Note, ohne gleich unsere Geschmacksnerven in Aufruhr zu versetzen.

Kunst zum Schmecken

Dennoch ist „Amuse-bouche“ eine sehens- und erschmeckenswerte Ausstellung. Die Schau ist Teil einer Serie über die fünf menschlichen Sinne. Schon 2015 und 2016 fanden im Tinguely Museum Präsentationen zum Geruchssinn („Belle haleine“) und Tastsinn („Prière de toucher“) statt. Dass auch der Geschmackssinn eine gewisse Relevanz für die Kunst hat, ist Folge der kontinuierlichen Grenzüberschreitung, wie sie die Kunst seit der Moderne praktiziert. Im interaktiven Kunstwerk etwa dehnte sie sich auf den Tastsinn aus, als Soundkunst auf den Bereich des Akustischen.

Halbiertes Bier: „Sufferhead“ von Emeka Ogboh.
Halbiertes Bier: „Sufferhead“ von Emeka Ogboh. | Bild: Emeka Ogboh

Nicht erst Roger Bürgel zielte mit seiner Einladung des katalanischen Molekularkochs Ferran Adrià zur Documenta 12 im Jahre 2007 auf den Geschmackssinn. Schon in den Sechzigerjahren wurde Kunst kulinarisch: in Daniel Spoerris Eat-Art­-Aktionen. Die werden in Basel dokumentiert, und auch mit seinen Fallenbildern ist der Schweizer vertreten.

Selbstverständlich fehlt in der Schau nicht ein barockes Früchtestillleben. Der Anblick von Jan Davidsz. de Heem Gemälde mit seinen kulinarischen Köstlichkeiten lässt einem buchstäblich das Wasser im Munde zusammenlaufen. Dagegen gammelt direkt neben seinem „Großen Schimmelbild“ von 1969 Dieter Roths „Literaturwurst“ vor sich hin.

So kennen wir Stillleben aus früheren Zeiten: Jan Davidsz. de Heems „Fruchtstillleben mit gefülltem Weinglas“ aus dem 17. ...
So kennen wir Stillleben aus früheren Zeiten: Jan Davidsz. de Heems „Fruchtstillleben mit gefülltem Weinglas“ aus dem 17. Jahrhundert. | Bild: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe

Beim Passieren von Urs Fischers Installation „Noisette“ (2007) schnellt beim Vorübergehen aus einem Loch in der Wand lasziv das Emblem und Organ des Ge­schmackssinns: die Zunge. Die war für die Schweizerin Janine Antoni das Werkzeug, mit dem sie ihr Selbstbildnis aus Schokolade („Lick and Lather“, 1993) modellierte. Joseph Beuys‘ „Ich kenne kein Weekend“ wiederum versöhnt das profan leibliche Bedürfnis mit dem hehren Geist, wenn einer Reclam-Ausgabe der „Kritik der reinen Vernunft“ eine Maggiflasche zur Seite gestellt ist.

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Heute steht die Koch-Kunst in voller Blüte und – um im Bilde zu bleiben – nicht nur im Bratensaft. So verhandelt der in Berlin lebende Nigerianer Emeka Ogboh mit seinem von ihm selbst gebrauten Strout-Bier Themen wie kulturelle Herkunft erkundet soziale Identität. Und für den April war in der Jungen Kunsthalle Karlsruhe die Ausstellung „Iss mich!“ geplant – ehe uns allen das Corona-Virus auf den Magen schlug. Verschoben ist nicht aufgehoben, 2021 sollen schon die kleinen Kunstgenießer auf den Geschmack gebracht werden.

Museum Tinguely, Paul Sacher-Anlage 1, Basel. Bis 17. Mai, Di-So 11-18 Uhr.