Olaf Neumann

In Ihrem neuen Buch „Der verlorene Sommer: Deutschland raucht auf dem Balkon“ erzählen Sie vom Alltag unter Corona. Wie geht es Ihnen heute?

Jetzt liegt der nächste Sommer vor uns, der nicht weniger verloren wirkt. Heute habe ich die Schlagzeile gelesen: „Der Kampf gegen Corona geht voran!“ Mein Nachbar kommentierte das mit „Die gehen alle voran auf einer Rolltreppe, die rasch nach unten fährt“.

Ziehen Sie sich immer öfter auf Ihre Datscha in Brandenburg zurück, um in Ruhe zu schreiben?

Ich dachte, Corona ist eine einmalige Chance, zu beobachten, wie die Welt durchdreht. Ob in Brandenburg oder hier in Berlin stelle ich fest, wie unterschiedlich die Menschen auf die gleichen Herausforderungen reagieren. Zum Beispiel meine Mutter und ihre Freundinnen oder meine Kinder. Das ist einmaliges Material. Das Buch, an dem ich jetzt arbeite, ist schon sehr spannend, aber ich habe es nicht gewollt. Es wird „Die Seelenreiter“ heißen. Corona hält die Welt im Griff, das kann man nicht ignorieren. Die Zukunft wird gerade beschlossen.

Die Helden Ihrer Jugend ignorierten die sowjetische Ideologie, heißt es in Ihrem Buch. Sie trugen lange Haare und stellten sich außerhalb der Gesellschaft. War das gefährlich?

Es gab rote Linien. Aber solange man keine Steine gegen die Kremlmauer schmiss, war das nicht wirklich gefährlich. Der sowjetische Staat ging nicht jedem Bürger an die Gurgel.

Wladimir Kaminer: „Der verlorene Sommer: Deutschland raucht auf dem Balkon“, Goldmann Verlag 2021, 192 Seiten, 16 Euro.
Wladimir Kaminer: „Der verlorene Sommer: Deutschland raucht auf dem Balkon“, Goldmann Verlag 2021, 192 Seiten, 16 Euro.

Wie geht es heute Künstlern, die in Opposition zu Putin stehen?

Jetzt ist das besonders gefährlich, weil die Opposition so klein ist. Das Regime setzt inzwischen immer mehr Geheimdienste und Abteilungen des Polizeiministeriums ein. Je mehr Uniformierte es gibt, desto weniger Gegner sind vorhanden. Man braucht immer mehr Mut, um gegen eine solche Gewaltmaschinerie aufzustehen. All diese Uniformierten müssen neue Orden bekommen, also jagen sie jedes Kindergartenkind, das aus Versehen gegen ein Putinporträt gepinkelt hat. Menschen werden für ein Like im Internet hinter Gitter gesteckt. Die Linie der Empörung ist längst überschritten.

Wünschen sich eigentlich viele Menschen ein anderes Russland als das von Putin und seinen Unterstützern?

Ich glaube, dass alle Russen sich im Herzen ein anderes Russland wünschen, sogar Menschen, die für Putin arbeiten. Auch Putin will wahrscheinlich ein Russland ohne sich selbst als Präsidenten, das ist ja eine Sackgasse. Er möchte wertgeschätzt werden. Stattdessen muss er Diktator spielen und sich vom amerikanischen Präsidenten als Mörder abstempeln lassen. Sind deswegen Russen in Massen auf die Straße gegangen? Niemand hat sich darüber empört! Putin gewinnt eine Wahl mit 79,5 Prozent und die Feierlichkeiten bleiben aus. Über dem Land liegt eine große Frustration, und Putin wird keine Reue zeigen.

Wie schätzen Sie Kremlkritiker Alexej Nawalny ein? Wird er nach dem Gefängnis weiter gegen Wladimir Putin protestieren?

Nawalny ist ein Mann von beispiellosem Mut. Solche Menschen kann man nicht mit Folter und Knast brechen. Ob er da jemals rauskommt, weiß ich nicht. Gegen Nawalny zu kämpfen, verleiht sehr vielen Uniformierten eine Scheinwichtigkeit.

Kaminer & die Antikörpers: „Bleib zuhause, Mama!“ (CD, Trikont), Veröffentlichung: 30. April.
Kaminer & die Antikörpers: „Bleib zuhause, Mama!“ (CD, Trikont), Veröffentlichung: 30. April.

Ist Nawalny ein einmaliger Held oder gibt es in Russland etliche wie ihn?

Durch seine beinahe biblische Geschichte inklusive Tötungsversuch und Auferstehung ist er zu einem russischen Jesus geworden. Aber niemand hätte vermutet, dass er gleich wieder in die Höhle des Löwen zurückkehrt. Das war für ein verschlafenes Land wie Russland eine besondere Geste. Da hat das Regime große Angst bekommen und wusste nicht, wofür es ihn in den Knast stecken soll. Nawalny sitzt ja eine Strafe ab, für die er längst bezahlt hat. Selbst für russische Verhältnisse eine ziemlich schräge Geschichte.

Bleibt zu hoffen, dass Herr Nawalny sich im Straflager zu allem Übel nicht mit Corona infiziert.

Ich hoffe, die Deutschen haben ihn vor seinem Abflug geimpft. Russische Oppositionelle muss man als Erste impfen.

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Würden Sie sich mit dem russischen Vakzin Sputnik V impfen lassen?

Ich habe keine Zweifel an der Qualität dieses Vakzins. Die Frage ist eher ethischer Natur: Darf man eine lebensrettende Medizin aus der Hand eines Mörders annehmen? Aber in dieser Situation sollten wir jede Hilfe annehmen.

Ist die Schwester Ihrer Mutter in Moskau schon geimpft worden?

Ich glaube nicht. In Moskau kann sich jeder gratis impfen lassen, aber die Bereitschaft ist nicht da. Die Mehrheit sind Impfverweigerer. Meine Verwandten sind alle der Meinung, Corona schon gehabt zu haben, weil sie im Winter schwer krank waren. Bis zum Arzt haben sie es nicht geschafft, weil ständig besetzt war. Ich wurde kürzlich von ZDF-Journalisten angerufen, die in Moskau festsitzen. Die haben sich im Kaufhaus Gum mit Sputnik impfen lassen und darüber hinaus ein Eis geschenkt bekommen. Zwei Tage später kamen sie auf die Idee, einen Film zum 70. Geburtstag von Putin zu machen. Vielleicht ist das ja eine Nebenwirkung der Impfung.

Machen Sie mit?

Ich möchte nicht nach Moskau, aber ich könnte schon ein Interview geben. Putin wird 70 und sieht unglaublich lebendig aus. Er wird vielleicht noch 15 Jahre im Amt bleiben.

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Sie schreiben, in Russland stimme die auf dem Papier beschriebene Realität überhaupt nicht mit der Wirklichkeit überein. Woran liegt das?

Um ein erfolgreiches Zusammenleben zu erreichen, muss man einerseits die Augen verschließen und andererseits einiges sehen, was gar nicht da ist. Menschen, die Macht haben, sagen immer das eine und meinen das andere und tun dabei das dritte. Dadurch driften die Wirklichkeit und die Realität immer weiter auseinander. Aber Deutschland macht auch unglaubliche Sprünge und liegt gar nicht so weit hinter Russland beim Marathon zum Wahnsinn. Auch hier wird die Kluft zwischen Realität und Wirklichkeit immer größer.

Haben Sie vor, nach der Pandemie als Sänger auf Tour zu gehen?

Ja, wobei ich glaube, dass die Konzerte der Zukunft anders aussehen werden. Musiker und Sänger werden Astronautenanzüge tragen und durch eine Online-Übertragung aus dem Anzug heraus singen. Wir sind ja auf dem Weg in eine ganz andere Gesellschaft. Der Mensch hat den Menschen als potenzielle Gefahrenquelle entdeckt. Das geht sogar durch die Familien hindurch.