In einer Familie zeigt sich die ganze Gesellschaft. Monika Helfer hat daraus ein erfolgreiches literarisches Format abgeleitet. Vor zwei Jahren landete sie mit „Die Bagage“, einem Roman über ihre eigene Großmutter, einen Bestseller. Das Werk funktionierte, weil das von Misstrauen, Eifersucht und Neid geprägte Dorfleben eine gesellschaftliche Grundstimmung offenbarte, die sich wie ein Rahmen um die weltpolitischen Ereignisse des beginnenden 20. Jahrhunderts legt.
Im vergangenen Jahr setzte Helfer ihre Familienerkundung mit „Vati“ fort, erzählte von brüchigen Beziehungen lange vor einer Zeit, in der Patchworkverhältnisse gesellschaftliche Akzeptanz fanden. Und jetzt folgt mit „Löwenherz“ Teil drei der Familienchronik aus dem Bregenzerwald: Porträtiert wird nun der früh verstorbene Bruder Richard, ein Sonderling und Einzelgänger, der mit lethargischer Realitätsverweigerung für manche eine Provokation, für andere ein Faszinosum und für dritte einen dankbaren Abnehmer ihrer Alltagsprobleme darstellte.
Zum Beispiel für eine Frau namens Kitti, die ihm eines Tages einfach ihre kleine Tochter unterjubelt, um fortan weiter unbeschwert auf Suche nach Männern zu gehen. Nach passenderen natürlich: solche mit schicken Autos und großen Villen. Kein kiffender Schriftsetzer wie Richard Helfer.
Dem ruft die abservierte Kleine bald begeistert „Papa!“ hinterher. Kein Wunder, verbringt der Tagträumer doch seine Zeit damit, dem fremden Kind Lesen und Schreiben beizubringen, Spiele zu spielen, Spazieren zu gehen. Es ist, als habe er nur auf eine Herausforderung gewartet, die seinem Leben Struktur zu geben verspricht.

Dabei kennt er nicht einmal den wirklichen Namen des Mädchens. „Putzi“ laute er, sagt es. Dass das nicht die ganze Wahrheit sein kann, ist Richards großer Schwester vollkommen klar. Mit entsprechend wachsender Verzweiflung beobachtet sie den sich immer mehr zu einer klassischen Vater-Kind-Beziehung auswachsenden Alltag ihres Bruders: Was, wenn die Behörden auf den Fall aufmerksam werden? Man kann sich doch nicht einfach ein wildfremdes Kind anhängen lassen?
Richard selbst lässt sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Schon als Kind richtete er sich aus einer Laune heraus für mehrere Tage in einer Höhle oberhalb von Feldkirch ein – ohne seinen Pflegeeltern Bescheid zu geben. Was andere denken, fürchten, hoffen: Es scheint ihn kaum zu erreichen.
Wer „Die Bagage“ und „Vati“ gelesen hat, ist über die familiären Hintergründe dieser Persönlichkeitsprägung im Bilde. Die Nachkriegsgeneration der Helfers ist in wirren Verhältnissen aufgewachsen: Die Mutter ist früh gestorben, der Vater lebt zurückgezogen im Kloster. Alle Kinder sind irgendwo untergebracht, bei dieser Tante, bei jenem Onkel, Familie ist das nicht.
Wenn sich in diesen fragmentarischen Strukturen eine Epoche des Umbruchs zeigt, stehen Freigeister wie Kitti und Richard für eine Generation, die zwischen den Zeiten hängt. Die einen nutzen die neuen Freiheiten einer im Zuge der 68er-Bewegung liberalisierten Gesellschaft für radikalen Hedonismus. Die anderen lassen sich durchs Leben treiben, in der Hoffnung, das Schicksal werde ihnen so etwas wie einen Sinn oder ein Ziel ganz von selbst präsentieren.
Und manchmal finden beide gegensätzlichen Typen wie durch wundersame Fügung zueinander. Wobei lange unklar bleibt, ob diese Fügung segensreich ist oder fatal. Im Fall des Richard aus dem Bregenzer Wald erscheint sie fatal. Als er doch noch eine Partnerin findet, die diese die wilde Vater-Tochter-Beziehung in eine legale umzuwandeln versucht, bekommt Richard Kittis rabiate Seite zu spüren: Mit drei finsteren Gestalten im Schlepptau taucht sie unversehens wieder auf, zerrt die Tochter aus der Wohnung und verschwindet mit ihr auf Nimmerwiedersehen. Zurück bleibt ein gebrochener Mann, beraubt um Verantwortung, Orientierung, Bedeutung.
Ein Kosename von tragischer Ironie
Löwenherz? Dem Kosenamen, verliehen von seinem Vater, wohnt eine tragische Ironie inne. Wie der wahre Richard Löwenherz keineswegs so ritterlich war, wie die Legende es will, vermag sein Nachfolger aus dem Bregenzerwald die Abenteuer des Lebens allenfalls scheinbar zu bestehen.
Helfer erzählt von alldem in bewährter Symbiose aus autobiografischer Intimität und Berichtsperspektive, bei aller inhaltlichen Schwere liest sich ihre Erzählung federleicht. Doch an die bestechend kammerspielhafte Figurenführung der „Bagage“ kommt sie nicht heran. Richard ist zu sehr ein Solitär, als dass sein Fall in die Lebenswelt des Lesers eindringen könnte.
So gelingt Identifikation allenfalls mit der stets besorgten, oft befremdeten Schwester als Ich-Erzählerin. Das scheint auch beabsichtigt, allerdings um den Preis, dass sich ihre Befremdung auf den Leser überträgt.
Familie mag ein Spiegel der Gesellschaft sein. Doch wer nur aus der Entfernung hineinblickt, wird darin wirklich Neues kaum erblicken.