Eheliche Treue zu kontrollieren, ist heute ein Ding der Unmöglichkeit. Alle digitalen Kommunikationskanäle durchschnüffeln: aussichtslos. Jeder Geschäftsreise nachspüren: hoffnungslos. Das Leben ist für Eifersüchtige komplex geworden, und vielleicht ist das ganz gut so. Nicht, weil es sich leichter betrügen lässt, sondern weil es weniger Anlässe gibt, den Partner zu Unrecht des Fremdgehens zu beschuldigen. Als etwa vor hundert Jahren Soldaten von ihrem Einsatz im Ersten Weltkrieg zurückkehrten, sah das noch anders aus.
Monika Helfer (72), Autorin aus dem Bregenzerwald, hat die Geschichte ihrer eigenen Herkunft erkundet. Sie ist für sich betrachtet nichts Besonderes: eine direkte Abstammungslinie ohne skandalöse Seitensprünge und uneheliche Geburten. Und doch hat ihre Großmutter ein Leben lang unter der Missachtung ihres Vaters leiden müssen. Wegen eines bloßen Untreueverdachts.
Maria und Josef Moosbrugger führen ein solides Eheleben, oben am Rand eines abgelegenen Alpendorfs des Bregenzerwalds. Er ist ein wenig jähzornig, niemals aber gegen seine Frau. Sie findet ihn zwar nicht aufregend, aber verlässlich und liebevoll. Niemand würde sich für ihr Leben interessieren, wäre Maria nicht von auffallender Schönheit: Es kann doch nicht sein, denken die Männer im Ort, dass eine so schöne Frau nur für einen Mann gemacht ist!
Die Frau im Blick behalten
Und dann zieht dieser eine Mann in den Krieg. Nicht ohne dem Bürgermeister einen Auftrag zu erteilen: Er möge doch seine Ehefrau im Blick behalten, dass sich niemand an sie heranwage.
Kaum ist Josef fort, taucht ein unbekannter schöner Herr aus Hannover auf. Vornehm, städtisch, hochdeutsch: eine exotische Erscheinung im Alpendorf. Wenn sich im Leben plötzlich neue Optionen auftun, eine unvorhergesehene Alternative die Tristesse des gewohnten Alltags durchbricht, dann übt das eine magische Anziehungskraft aus. Maria ist charakterstark, sie wird dieser Kraft widerstehen.
Aber sie ist nicht stark genug, um den schönen Fremden gleich mit aller Entschiedenheit zur Tür hinaus zu werfen. Dass sie ihn überhaupt über die Schwelle hat treten lassen, soll ihr zum Verhängnis werden. Denn dort draußen blicken viele Paare Männeraugen tagein, taugaus auf ebendiese Tür.
Demonstratives Weggucken
Den Bürgermeister braucht Maria kaum zu fürchten, er will nichts gesehen haben. Fürs demonstrative Weggucken gönnt er sich aber auch umso mehr körperliche Nähe zu ihr. Der Pfarrer spürt, das etwas nicht stimmt im Dorf, dass eine Erregung um sich greift, die dem Haus dort oben vom abwesenden Moosbrugger gilt. Kein Wunder: Der Mann ist fort, die Frau so schön – da kann man sich leicht ausrechnen, was hier gespielt wird!
Monika Helfer zeichnet das Bild einer Gesellschaft, in der einerseits Treulosigkeit mangels Gelegenheiten kaum eine Chance hatte. Und in der andererseits aber umso größerer Verdacht aufkam, wenn sich diese Gelegenheit unversehens doch einmal ergab.
Unterschied zwischen den Generationen
Wie extrem sich dieser Unterschied zwischen den Generationen ausnimmt, zeigt sich, als die Ich-Erzählerin von einer eigenen, tatsächlichen Affäre in jungen Jahren berichtet. Dieser Mann reiste viel, er hatte eine Frau in Schweden und ein Kind, das in Paris gezeugt worden war. Was für ein Unterschied zum Leben unter der ständigen Kontrolle eines ganzen Dorfes!
Als Josef zurückkommt, genügt das Getuschel der Nachbarn, um in ihm eine Überzeugung reifen zu lassen: Das Kind, das im Bauch seiner Frau heranwächst, muss von dem ominösen Fremden aus Hannover stammen. Oder vom Bürgermeister, der Josef eine entsprechende Lügengeschichte auftischt. Nur eins scheint unwahrscheinlich: dass Josef selbst es während seines Fronturlaubs gezeugt hat.
Neid und Misstrauen
Im Dorf lässt sich weder dem Neid entkommen noch dem Misstrauen. Wie ein Netz legt sich das Ressentiment um Maria und damit auch um ihre Kinder. Wegen eines flüchtigen Besuchs, eines zudringlichen Bürgermeisters und der aufhetzenden Predigten eines Pfarrers sind sie bald statt einer ganz gewöhnlichen Familie „die Bagage“.
Auch wenn Roman unter dem Titel dieses Buchs steht, lässt die Autorin keinen Zweifel an der historischen Faktizität ihrer Geschichte. Aus der Ambivalenz von verwandtschaftlicher Nähe und zeitlicher Distanz bezieht dieser Roman eine frappierende erzählerische Kraft. Man glaubt bisweilen, statt einer Enkelin den Schilderungen einer Augenzeugin beizuwohnen. Aus einer Zeit, als über die Treue im Eheleben noch ein ganzes Dorf wachte.
Monika Helfer: Die Bagage. Hanser-Verlag, München 2020, 160 Seiten, 19 Euro. Das Buch erscheint am Samstag, 1. Februar.