Ich war überrascht. Aber der Regierungspräsident des Kantons Sankt Gallen lud mich ein, vor seinen Verwaltungskadern eine Rede zu halten. Ein Theaterintendant spricht über Vorurteile, vierhundert Mitarbeiter hören zu.

Ich schlage vor, die Verfassung von Sankt Gallen um einen Artikel zu bereichern: das Recht der Menschen auf Glück. Niemand lacht. Im Gegenteil: Wenn es um das Glück eines jeden Menschen geht, wird es ernst. Wohlstand ist nicht schwer, denn das Land ist reich, aber Glück?

Nie hat mich einer meiner Schweizer Freunde schlecht behandelt, nie hat mich einer in Zürich, Basel oder Bern als Deutschen abgelehnt. Was ist anders, wenn mir Schweizer in der Innenstadt begegnen, dem Fußgänger den Weg abschneiden, was ist anders, wenn gestylte Frauen in ihren SUV-Limousinen mit Zürcher Kennzeichen und quietschenden Reifen rücksichtlos um die Ecke biegen, ihre dicken Kisten am Straßenrand parken, die Bürgersteige blockieren? Was ärgert mich, wenn ich türkisch-schweizerische Machos im Lamborghini vorbeiheulen höre?

Es stört mich, dass sie über die niedrigen Bußgelder in Deutschland lachen. Der kleine Rassist setzt sich durch und trichtert mir ein: Ach ja, die Schweizer! Und damit meine ich alle: meinen Freund Oli, den Clown, meinen Freund Konrad, den Banker, die grüne Kulturreferentin Dorena, die SVP-Regierungsrätin, die immer das Theater unterstützte, egal was ich spielte.

Unser Kolumnist Christoph Nix schreibt im zweiwöchigen Wechsel mit O‘tooli Fortune Haase.
Unser Kolumnist Christoph Nix schreibt im zweiwöchigen Wechsel mit O‘tooli Fortune Haase. | Bild: Lukas Ondreka

Keine Frage: Schweizer sind pünktlich und sauber, sie sind langsam und reich, sie sprechen ein seltsames Deutsch und was immer sie tun, sie nehmen kein Taxi. In Konstanz, an einem Samstagmittag, ist es besser, die Innenstadt zu meiden. Gut gekleidete, wohlhabende Autofahrer zeigen mir, dass ich doch nur ein kleines, minderbemitteltes Ich bin: Reiche unter weniger Reichen.

Keine Demokratie in Europa bietet so viel Möglichkeiten zwischen Repräsentanz und Plebiszit, kein Land ist so sauber und frei, aber was ist es, das uns untereinander stört? Es ist die Verführung der gemeinsamen Sprache in allen ihren dialektischen Varianten, die meint, wir wären gleich. Wir sind es aber nicht. Nicht nur die Geschichte hat uns voneinander getrennt, der plötzliche Reichtum der Bergvölker muss vergessen machen, wie es ist, auf der Alm arm zu sein.

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Das spiegelt sich vor allem wider in den aufgestiegenen Schweizer Türken der vierten Generation. Neulich, an der Tankstelle in Hohenems, an der österreichisch-schweizerischen Grenze schnauzt mich einer an: „Mach schneller du alter Sack.“ Ich antworte: „Für Sie immer noch Sie.“ Er hat nichts verstanden von Nähe und Ferne, von Graubünden und Anatolien, vom Schwarzwald und von der „Credit Suisse“.

Die „Credit Suisse“ hat solche Vorurteile nicht. Die nehmen alle, haben alle aufgenommen, ob Mafia, Kriegsverbrecher oder Allianz. Darauf beruht auch sein Reichtum. So sind wir, wir reichen Völker: Wir hatten Glück, verdient haben wir es nicht.