SÜDKURIER: Sie geben seit Corona Zoom-Kurse für Eltern, die mit ihren Kindern verzweifeln. Woran verzweifeln Sie?
Britta Hahn: Nicht direkt verzweifeln, aber ich ärgere mich darüber, unter welchem Druck Eltern und vor allem Mütter stehen. Dadurch, dass sie immer mehr Erziehungstipps lesen und von überall her hören, wie sie es mit ihren Kindern richtig zu machen haben. Kaiserschnitt oder Hausgeburt, Stillen oder Flasche, ein oder drei Jahre Elternzeit, alles ist ein Dogma. Kein Wunder, dass vor allem Mütter immer depressiver werden, weil sie diesem Anspruch, alles richtig zu machen, nicht gerecht werden können. Sie verurteilen sich, sind selbstkritisch, sind im Dauerstress. Und verpassen dabei das Wichtigste: Eine entspannte Mutter zu sein ist die beste Erziehungsmethode.

Jetzt ist wieder ein langes Wochenende – für Menschen ohne Kinder Zeit zum Entspannen. Meine Freundin, die ein kleines Kind hat, sagt, diese Tage seien der Horror für sie, sie wolle lieber arbeiten. Wie auch Weihnachten und Silvester.
Es kommt immer auf den Einzelfall an, aber das ist ein gutes Beispiel für überzogene Erwartungen, die Eltern unter Druck setzen. Etwa an Weihnachten, da muss es heilig sein, tolle Geschenke, perfektes Essen, alle haben sich lieb. Das bläst den Raum für Enttäuschungen immer weiter auf. Mütter versuchen alles perfekt zu machen, damit es aussieht wie auf den Bildern von glücklichen Familien, die sie auf Facebook online sehen. Aber diese Bilder zeigen nur einen Moment. Es gibt weder ein davor noch ein danach. Natürlich ist Arbeit in den Augen Ihrer Freundin erholsam. Sie kann etwas anfangen und etwas zu Ende bringen. Und wie ist das als Mutter? Man ist ununterbrochen am Machen: Essen kochen, einen Streit schlichten, Wickeln, eine Wunde versorgen. Mutter-Sein ist eine Aufgabe, die nie zu Ende gebracht ist.
Was ist die Lösung für entspanntere Mutter- oder Vaterschaft?
Dass wir unsere Gefühle regulieren, auch wenn das Kind heult, weil ihm das Weihnachtsgeschenk zu klein ist oder mein Mädchen mal wieder nicht aufräumen will. In solchen Momenten ist es wichtig, sich innerlich beruhigen zu können. Und damit ist nicht die Psyche, sondern der Körper gemeint. Da sitzt der Stress nämlich! Das wissen wir seit der Erforschung von Traumata. Diese Innenschau müssen Mütter, Väter und wir alle wieder lernen. Wir sind trainiert worden, zu funktionieren und die eingebildeten oder echten Erwartungen zu erfüllen. Mütter sind perfekt funktionierende Maschinen. Eine Mutter ist so übermäßig funktional, sie schaut, wie es den Kindern geht, dass das Essen schmeckt, die Wohnung sauber ist. Aber nicht nach sich selbst.
Das heißt, eine Mutter soll mehr auf sich und weniger auf ihr Kind achten?
Wenn es mir nicht gut geht, geht es meinem Kind nicht gut. Weil es das spürt. Die Lösung liegt in uns. Ich bin überzeugt, dass alle Eltern die Selbstregulation und Innenschau wieder erlernen können. Es ist jedoch kein Wunder, dass wir die Kompetenz in unserer Gesellschaft verlernt haben. Denn die meisten von uns sind seit der frühen Kindheit an darauf trainiert, sich für die Gefühle anderer verantwortlich zu fühlen. Für die von Mama und Papa etwa. Das ist ein Irrtum. Ein Mensch kann für den anderen immer so etwas wie gutes Wetter sein. Seine Gefühle regulieren muss jeder selbst.
Wie wende ich das jetzt auf eine konkrete Erziehungssituation an?
Die Eltern in meinem Kurs haben mir bestätigt: Wenn sie jetzt ärgerlich sind, achten sie darauf, was in ihnen vorgeht, statt zu glauben, das Kind sei für diesen Ärger zuständig. Klar, dass sie sich ärgern, ist real. Die Begründung wird aber eine andere. ‚Weil ich es gerne habe, wenn das Zimmer ordentlich ist‘, statt: ‚Weil du immer nicht aufräumst‘.
Wie kommt man dahin?
Ich arbeite mit dem Ansatz aus der Schematherapie und der körperorientierten Ego-State-Therapie. Die besagt auch, dass man sich selbst nicht als eine einzige starre Person erlebt. Wir haben mehrere Persönlichkeiten. Das hat nichts mit Schizophrenie zu tun. Wenn ich mit meinem Mann streite, bin ich eine andere, als wenn ich als kompetente Therapeutin unterwegs bin. Je nach Kontext kann ein und dieselbe Person furchtbar albern oder sehr ernst sein – es gehört alles zu ihr, nichts ist gespielt.
Wie viel Persönlichkeiten sollen das sein?
Es heißt, wir haben um die 15 Persönlichkeitsanteile, mit der wir in die Außenwelt gehen. Wenn in meinem Kurs Eltern anders sind, als sie sein wollen, schauen wir erst einmal gemeinsam, welche Persönlichkeit das ist, die die Kommunikation und Verbundenheit zum Kind nicht so gut fördern kann. Nicht so gut wie ein anderer, erwachsenerer Anteil.
Und den locken Sie heraus?
Im Grunde, ja. Das ist natürlich alles komplexer in der Theorie. Seit der Kindheit werden Persönlichkeitsanteile entwickelt – und haben irgendwann auch für uns funktioniert. Heute können sie dysfunktional sein. Ein Beispiel: Eine Mutter ist beleidigt, wenn der Sohn nicht hört. Vielleicht, weil sie als Kind gelernt hat: Wenn sie beleidigt tut und sich ins Zimmer einschließt, kommt der Vater und kümmert sich um sie. Aber ich kann eben als Mutter nicht wie ein Kind reagieren. Diesen Persönlichkeitsanteil haben wir dann im Kurs verabschiedet. Und einen Persönlichkeitsanteil von ihr begrüßt, der war verständnisvoll und hörte zu. Er ging zum jungen Ich der Mutter ins Zimmer – sie war wie befreit. In dem Moment, in dem sie befreit war, hat das jeder im Raum mitgefühlt. Sogar über Zoom.
Sie sagen, soziale Medien können uns helfen, uns näher zu kommen. Das ist eine interessante Sichtweise.
In Bezug auf Zoom: Ja. Ich selbst habe durch Corona erst gelernt, dass Gefühle scheinbar nicht an einen Raum gebunden sind. Ich mache online Einzelarbeit in der Gruppe. Und wenn beispielsweise jemand gerade in einem Zustand ist, in dem er als Kind einsam war und sich unverstanden fühlte. Und jetzt kommt ein erwachsener Teil von dieser Person und versorgt diesen Anteil – dann kommt es im Zoom zu diesen fast magischen Momenten, dass jeder das fühlen kann. Marshall Rosenberg, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, sagte, wenn Empathie fließt, dann kriegt das jeder im Raum mit. Überraschenderweise auch im digitalen Raum. Und es hat noch einen Vorteil: Jeder fühlt sich sicher, weil er im eigenen zu Hause ist. Das ist für die Gruppendynamik Gold wert.
Wir haben die meiste Zeit von Müttern gesprochen und auch ihr neues Buch heißt „Mama, beruhige dich“ – sind es denn nur Mütter, die in Ihren Kursen lernen wollen?
Es waren immer reine Frauenrunden. Doch an den letzten Kursen haben einige Väter teilgenommen – junge Männer. Das hat mich sehr gefreut, dass die neue Generation Eltern Erziehung etwas gleichberechtigter wahrnimmt.