Zeliha, vier Jahre alt, reicht es. Sie hat lange genug gewartet. Zweimal schon wurde ihr an diesem Nachmittag ein Friseurbesuch versprochen. Zweimal schon lautete die Antwort: „Gleich“. Das Mädchen lässt sich mit dem Rücken voran auf das Familiensofa im Wohnzimmer fallen und landet direkt vor Mutter Doreen Aldugan, die gerade ein Interview mit dem SÜDKURIER führt.
Das erneute „gleich“ kontert Zeliha rasch „Nein, jetzt.“ Doreen Aldugan lacht: „Sie hat ja Recht“, und steht auf. Zeliha führt summend und hüpfend ins Kinderzimmer. Auf dem Boden sind Bürsten, Haargummis und Spangen drapiert, die SÜDKURIER-Redakteurin wird jetzt gekämmt. Unterm Puppenhaus krabbelt Baby Elyas und lutscht an einem Barbie-Bein. Der zweijährige Ilay stapft mit gekrallten Fingern umher und ruft „Whuaaaar, Dino“.
Für Doreen Aldugan ist das der ungestörte Moment, auf den sie gewartet hat. Sie zückt ihr Smartphone und beginnt, sich zu filmen. „Die Redakteurin ist immer noch da, die Kinder sind eigentlich ganz brav“, sagt sie, schwenkt die Handykamera auf die Friseurstube im Kinderzimmer. Elyas, Ilay und Zeliha spielen ungerührt weiter. Für sie ist eine Mama, die ins Handy spricht, ein gewohnter Anblick. Doreen Aldugan aus Friedrichshafen ist Momfluencerin.
Das Wort ist zusammengesetzt aus dem Englischen „Mom“, also Mutter, und „Influencer“. Influencer sind Leute, die ihre Beliebtheit in sozialen Netzwerken nutzen, um für Produkte oder Lebensstile zu werben.
Doreen Aldugan, 27 Jahre, ist unter den Namen „nocheinwunder“ auf Instagram aktiv. Sie teilt ihr Leben und das von drei Kindern, Mann Ibrahim, Katze Coco und Hund Tokio mit über 16.800 Menschen.19 Stunden, nachdem Zeliha Friseur gespielt hat, wird die Szene im Kinderzimmer über 5128 Mal auf den Bildschirmen des Landes abgespielt worden sein.
Ängste, Wünsche, Träume – alles öffentlich
Täglich nimmt Doreen Aldugan Instagram-Storys auf. Sie erzählt der Kamera Träume, Ängste, Wünsche. Dabei gilt das Prinzip maximale Nähe: Ilay fällt hin und muss ins Krankenhaus? Die Follower fühlen mit. Elyas hat eine Allergie und niemand weiß, wogegen? Doreen fragt ihre Fans um Rat. Die wissen, dass das Lieblingstier von Ilay der Dino ist, dass Zeliha „Frozen“ liebt, klar. Auch, dass Mama Doreen gerade versucht, wieder schwanger zu werden.
So begann ihre Instagram-Karriere, 2018, mit einem Kinderwunsch-Profil nach fünf Fehlgeburten. Rat habe sie gewollt und Austausch. Das Profil wuchs, bald zeigten die ersten Unternehmen Interesse an ihr. Sogenanntes Influencer-Marketing, also dass Produkte von Personen mit viel Reichweite in sozialen Netzwerken präsentiert werden, ist derzeit das große Ding in der Marketing-Welt.
Fast 50 Prozent der unter 35-Jährigen lassen sich „influencen“
In einer aktuellen Umfrage des Bundesverbands Digitaler Wirtschaft (BVDW) unter Marketingchefs haben über 70 Prozent das Budget für Influencer-Marketing erhöht. „In 64 Prozent der Firmen gibt es Verantwortliche für Influencer Marketing“, sagt Matthias Maurer vom BVDW. Die Gründe seien ein besserer Zugang zur Zielgruppe und höhere Authentizität.
Wie mächtig die Branche ist, zeigen diese Zahlen: Mehr als jeder fünfte Deutsche hat 2020 schon einmal ein Produkt gekauft, weil er es zuvor bei einem Influencer gesehen hat. Bei den unter 35-Jährigen sogar fast 50 Prozent. Auch in der Region.
Erst kürzlich suchte einer der größten Player, die Tourismus- und Marketing Konstanz, via Anzeige nach einem Mitarbeiter Öffentlichkeit, der explizit auch Influencer-Kampagnen antreiben soll.
„Liebe es, mein Leben auf Instagram zu teilen“
Dazu passt jemand wie Doreen Aldugan, die sagt: „Ich liebe es, mein Leben auf Instagram zu teilen, ich liebe die Interaktion mit meinen Followern.“ In den meisten Storys spricht sie allein in die Kamera und erzählt. Dazwischen gibt es hier mal ein Foto von den Kindern beim Weihnachtsplätzchen-Backen, da mal Werbung für eine elektrische Zahnbürste, den Säugling im Arm, oder ein Parfum – kein Problem.
Sie führt in den Raum der Vier-Zimmer-Wohnung, den sie „die Kammer des Schreckens“ nennt. In den Ecken stapeln sich leere Kartons.
Drin waren: Parfum, Kerzen, Staubsauger, Waffeleisen, Brillen, Kinder-Spielzeug, Fotobücher. Alles Dinge, die viele Mütter kaufen. Mit dem Unterschied, dass Doreen Aldugan dafür bezahlt wird, sie zu benutzen und den Fans zu zeigen. Die Werbepartnerschaften werden immer mehr. „Deshalb habe ich mir vor ein paar Wochen eine Agentur geholt.“ Die organisiert Kooperationen, kommuniziert und verhandelt mit den Partnern– und kriegt dafür einen Anteil des Gewinns. In der Branche sind um die 20 Prozent die Regel.
Mehrere Hundert Euro pro Story sind noch nicht das Maximum
Allein in dieser Woche hat sie fünf Kooperationen mit Unternehmen. Mehrere Hundert Euro verdient sie pro Aktion. Das ist lange nicht das Ende der Skala: Sechsstellige Beträge erhalten die begehrtesten Influencer. Momentan darf die Häflerin nur 30 Stunden die Woche arbeiten, sonst wären es noch mehr Kooperationen, sagt sie. „Ich glaube, die nächste Elternzeit nimmt besser mein Mann.“
Was macht sie mit den all den Kerzen, Styling-Tools, den Duftspendern, magnetischen Wimpern? „Das wird bei uns benutzt“, sagt sie und deutet auf die Puppenbadewanne im Kinderzimmer, auf die Duftstangen im Flur, das Waffeleisen in der Küche. Dinge, die ihr nicht gefallen, schicke sie „knallhart“ zurück. Den Followerinnen gegenüber sei Ehrlichkeit Pflicht. „So sehe ich es, auch wenn ich weiß, dass manche Influencer ganz anders drauf sind.“
Manchmal gibt es einfach nur Nudeln ohne Soße
Was ist es, das Doreen Aldugan bei den Fans so beliebt macht? Häufig richten sich ihre Beiträge gegen Perfektionismus. Mit einem nonchalanten Schulterzucken filmt sie den Kinderzimmerboden, der mit Spielzeug so dicht belagert ist, dass man den Teppich nicht mehr sieht. Oder sie verkündet am Morgen: „Heute habe ich keine Lust zu putzen“. Die Followerinnen belohnen diese Offenbarungen mit Herzen und Likes.
Stillen oder Nicht-Stillen, Baby im Elternbett, Tragetuch oder Kinderwagen? Zu klassischen Streitthemen im Mütter-Universum vertritt sie eine klare Meinung: „Mach es, wie du und deine Kinder sich dabei wohlfühlen.“ Im Gespräch mit dem SÜDKURIER am Küchentisch wird Aldugans Stimme etwas lauter, die Worte überschlagen sich: „Egal, wirklich, es ist egal. Manchmal gibt es bei uns einfach nur Nudeln ohne Soße – weil die Kinder es sich so wünschen. Und das ist okay. Viele Mütter meinen, alles perfekt machen zu müssen und das sorgt letztendlich für so viel Stress und Druck. Ich glaube, eine zufriedene Mama ist das Beste, was Kindern passieren kann“, schließt sie ihr Plädoyer.
Wenn Aldugan ein kurzes Video postet, in dem sie mit dem Baby im umstrittenen Familienbett kuschelt und dazu schreibt: „Wenn dir jemand erzählen will, dass ein Familienbett nicht gut sein kann ...“, dann antworten die Follower mit „Megaa“ und „Ich fühle es“, schicken Emojis von applaudierenden Händen und roten Herzen. Sie sehen „Nocheinwunder“ als Rebellin gegen den Perfektionsdruck, der auf vielen Müttern lastet.
Wer den halben Tag im Hause Aldugan verbringt, erlebt, wie Doreen Aldugan mit den Bedürfnissen der drei Kinder scheinbar mühelos jongliert. Ob sie nun im Gespräch wie nebenbei eine Windel in weniger als 30 Sekunden wechselt, eine Türen-knallende Zeliha mit zwei Sätzen beruhigt oder vor dem Mittagessen ein paar Insta-Storys raushaut – die Handgriffe und Worten sitzen ebenso wie der Eyeliner. Die entspannte Mama und ihre mit Spaghetti ohne Soße gesättigten, sorglos spielenden Kindern. Darin, nicht perfekt zu sein, ist die junge Frau einfach perfekt.
„Wenn das meine Lehrer von früher sehen würden!“
War sie schon immer so? „Ja, eigentlich nicht. Wenn mich meine Lehrer heute sehen würden, ich als Momfluencerin, die würden ihren Augen nicht trauen!“, ruft sie, lacht und haut mit der rechten Hand auf den Tisch. „Mama trägt ja Schnuller“, staunt Zeliha, als Doreen Aldugan ein Foto aus ihrer rebellischen Phase zeigt. Die Doreen darauf hat einen Schnuller im Mund, blaue Haare auf dem Kopf und blickt grimmig aus schwarzumrandeten Augen in die Kamera. Ein schwieriges Kind sei sie gewesen, Diagnose ADHS, Tabletten selbst abgesetzt, einjähriger Aufenthalt im betreuten Wohnen, viele Schulwechsel und zum Song „Schlechtes Vorbild“ von Sido das Abi-Zeugnis entgegengenommen.
Jura angefangen, abgebrochen, Sinologie angefangen, abgebrochen, mehrere Arbeitgeber gehabt, bei allen, sagt sie, sei es gut gelaufen. Sie sei es stets gewesen, die die Lust verlor. Ein von der Firma bezahltes duales Studium in Ravensburg habe sie erst angenommen, um dann festzustellen: Eigentlich möchte ich doch lieber Kinder bekommen. „Da war ich zwei Jahre mit meinem Mann zusammen, vorher hatte ich schon Karriere-Gedanken, aber das wurde immer weniger wichtig.“
„Als brodelte etwas in mir, das raus muss“
Als Jugendliche, sagt sie, konnte sie sich nie auf nur eine einzige Sache konzentrieren. Sie steht jetzt in der Küche der 120-Quadratmeter-Wohnung auf und wirft ihre Arme nach rechts, sagt: „Hier wollte ich mitmachen“, sie wirft die Arme nach links, sagt: „Und da.“ Ihr schlanker Körper tänzelt durch die Küche. „Es war, als brodelte etwas in mir, wenn ich still sitzen sollte. Etwas, das nach oben drängte und raus muss.“ Also all das, was früher von Lehrern, Ärzten, Jugendamt nicht erwünscht war, hilft ihr jetzt.
In ihrem Abi-Song „Schlechtes Vorbild“ singt Sido: „Ich bin ein schlechtes Vorbild. Na und? Wer sagt, was schlecht ist? Ich passe nicht in dein Konzept? Egal, mir geht es prächtig.“
Es gibt Menschen, die Aldugan wegen ihrem Instagram-Erfolg heute schlechtes Vorbild nennen. „Ich bekomme fast täglich sehr persönliche, gemeine Nachrichten“, verrät sie und scrollt durch die PNs, schüttelt den Kopf. „Mütter sind im Netz eine Zielscheibe – und Mütter, die ihre Kinder zeigen, sind die Teufel.“ Sie überlegt kurz, dann holt sie aus: Kindermodels oder Kinderdarsteller würden ja auch abgebildet. Bekämen deren Eltern so viel Hass dafür?
Oder ist das, was Mütter erleben, eine bestimmte Form von Frauenhass?
Trotzdem: Was ist mit der Privatsphäre der Kinder?
Es gibt Studien, die in diese Richtung weisen, die belegen, dass Frauen im Netz deutlich mehr und persönlicheren Hass erleben als Männer. Eine von Plan International unter jungen Frauen kam zu dem Ergebnis, dass 70 Prozent der Mädchen und jungen Frauen in Deutschland Beleidigungen in sozialen Medien erfahren.
Doreen Aldugan sagt, von Häme, Hass und Kritik lasse sie sich nicht beeinflussen. Sie habe eine dicke Haut – seit ihrer Teenager-Zeit. Der Refrain von „Schlechtes Vorbild“ endet so: „Pass doch auf, hör mir zu, mach‘s mir nach.
Mach‘s mir nach du Spinner, ich bleib so, wie ich bin, egal was ihr sagt.“
Trotzdem muss die Frage nach der Privatsphäre der Kinder erlaubt sein. Der Kinderschutzbund rät davon ab, Kinder erkennbar im Netz zu zeigen – insbesondere Situationen, die später peinlich sein könnten. Ab 14 Jahren muss das Kind vor der Veröffentlichung zustimmen. Doreen Aldugan: „Meine Kinder werden nur gefilmt, wenn sie das wollen. Meine Kleine mag das, sie tut manchmal sogar selbst so, als nehme sie eine Story auf.“ Und was, wenn eines ihrer Kinder irgendwann ein Problem mit dem Content hätte? „Ganz klar, dann lösche ich alles sofort!“
Das Projekt „Schau Hin“, in dem es um Kinder und Gefahren im Netz geht, warnt: Bilder von halb nackten Kindern in der Wanne oder am Strand könnten Pädosexuelle anziehen, die die Fotos klauen und verbreiten. Eine ARD-Recherche konnte Mitte 2021 zeigen, dass in den einschlägigen Foren auch Kinderbilder, auf denen keine nackte Haut zu erkennen ist, Beachtung finden. Aldugan: „Peinliche Fotos oder Bilder, auf denen meine Kinder leicht bekleidet sind, sind ein No-Go.“ Aber Pädophile könnten genauso beim Kinderfußball zuschauen oder im Bus sitzen.
Beim Einkaufen erkannt
Doreen Aldugan ist mit sich als Momfluencerin im Reinen. Vor kurzem wurde sie beim Einkaufen erkannt, erzählt sie. Mit den Worten: „Ich kenn dich, du bist Nocheinwunder!“, sei eine Frau auf sie zugestürmt und habe ihr Komplimente gemacht. Das war Doreen Aldugan unangenehm, gesteht sie ein. Nein, nicht weil die Frau durch die täglichen Instagram-Storys so viel über sie wusste und sie im Gegenzug nichts über die Frau. Sondern, sagt sie, weil sie nicht gut mir Komplimenten umgehen könne. So von Mensch zu Mensch.