Die Kliniken in Konstanz müssten schließen, ebenso die Krankenhäuser in Friedrichshafen und Überlingen. Vom Hochrhein aus müssten Patienten und Besucher 90 Minuten ins nächstgelegene Krankenhaus fahren. Bis auf den Raum um Singen und Villingen-Schwenningen käme die Nahversorgung mit Kliniken im Süden Baden-Württembergs praktisch zum Erliegen.

Können Sie sich das vorstellen? Das wäre das Ergebnis, würde man eine Studie der Bertelsmann-Stiftung auf die Region Südbaden anwenden. Demnach würden bundesweit 600 statt der derzeitigen 1.400 Kliniken ausreichen. Entsprechende Spezialisierung vorausgesetzt, sei die medizinische Versorgung sogar besser als in kleinen Krankenhäusern auf dem Land, in denen es kaum mehr als 100 Betten gibt. Sie alle fielen weg.

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Landesregierung hält Reduzierung für richtig

Das Ganze ist ein Modell, der Gedanke dahinter entspricht aber aktuellen politischen Erwägungen. Die theoretischen Spielereien lehne die Landesregierung zwar ab, aber „wir halten die grundsätzlichen Aussagen der Studie zur Entwicklung der stationären medizinischen Versorgung für richtig“, sagt eine Sprecherin des Sozialministeriums von Baden-Württemberg dem SÜDKURIER. Eine konkrete Zielzahl will sie nicht nennen, aber schon jetzt werden Kliniken geschlossen, zuletzt in Bad Säckingen am Hochrhein oder in Künzelsau im Landkreis Hohenlohe.

Damit muss nicht zwingend eine schlechtere medizinische Versorgung einhergehen, klar ist aber, dass die Erreichbarkeit von Kliniken schlechter wird. Der SÜDKURIER hat ein Datenexperiment gewagt, in dem wir berechnet haben, wie lange der Anfahrtsweg von jeder Kommune im Land zur nächstgelegenen allgemeinen Klinik derzeit ist, und wie lange man brauchen würde, würde man die Bertelsmann-Studie konsequent umsetzen. Dabei kam heraus, dass ländliche Regionen leiden würden – allen voran die Region Hochrhein/Schwarzwald.

Der Ist-Zustand

Derzeit ist die Klinik-Landschaft breit aufgefächert. Viele kleine Kliniken wie in Stockach, Überlingen oder Waldshut ergänzen die Versorgung in großen Häusern wie dem Hegau-Bodensee-Klinikum in Singen. Konkret gibt es in Baden-Württemberg derzeit 149 Kliniken, die mindestens einen Fachbereich Innere Medizin oder eine Allgemeine Chirurgie oder beides bereitstellen.

Dadurch sind die Anfahrtszeiten zum nächstgelegenen allgemeinen Krankenhaus relativ kurz, wie die folgende Grafik zeigt.

Viele kleine Kliniken sorgen für schnelle Erreichbarkeit in ländlichen Gebieten

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Die Gemeinde Heddes- bach im Rhein-NeckarKreis hat mit rund 45 Minuten die längste Anfahrt.

Die Gemeinden am Obersee sind mit den Kliniken in Friedrichs- hafen und Überlingen gut versorgt.

Die Bewohner am Hochrhein sind schnell in der Klinik in

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  1. Die Gemeinde Heddesbach im Rhein-Neckar-Kreis hat mit rund 45 Minuten die längste Anfahrt.
  2. Viele kleine Kliniken sorgen für schnelle Erreichbarkeit in ländlichen Gebieten.
  3. Die Bewohner am Hochrhein sind schnell in der Klinik in Waldshut.
  4. Die Gemeinden am Obersee sind mit den Kliniken in Friedrichshafen und Überlingen gut versorgt.

Nach unseren Berechnungen ist keine Kommune in Baden-Württemberg weiter als 45 Autominuten vom nächsten Krankenhaus entfernt. In der Region liegen die Gemeinden mit dem weitesten Anfahrtsweg eine gute halbe Stunde weg. Das betrifft etwa Tengen im Landkreis Konstanz oder Grafenhausen im Landkreis Waldshut.

Wendet man die Kriterien der Bertelsmann-Stiftung konsequent an, ergibt sich ein komplett anderes Bild.

Der Soll-Zustand

Demnach sollten die Kliniken der Zukunft mindestens 600 Betten haben. Zudem sollen sie besonders auf Schlaganfälle und Herzinfarkte vorbereitet sein, indem sie eine sogenannte Stroke-Unit und eine Chest-Pain-Unit vorhalten. Derzeit sind im ganzen Land nur 28 Kliniken groß genug oder gut genug ausgestattet, um die Kriterien zu erfüllen. In Südbaden bliebe nur das Krankenhaus in Singen, die beiden Konstanzer Kliniken, die unterschiedliche Träger haben, müssten zusammengelegt werden. Dementsprechend verlängern sich die Anfahrtswege.

Bewohner ländlicher Gebiete ohne größere Stadt in der Nähe – wie im Landkreis Schwäbisch- Hall – hätten es weit.

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Große Städte wie

Stuttgart wären

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Hinter der bayrischen Grenze liegt keine größere Klinik. So sieht es auch am Obersee schlecht aus.

Dogern am Hochrhein läge mit 91 Minuten Fahrtzeit am weitesten von der nächsten Klinik entfernt.

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  1. Bewohner ländlicher Gebiete ohne größere Stadt in der Nähe – wie im Landkreis Schwäbisch- Hall – hätten es weit.
  2. Große Städte wie Stuttgart wären weiterhin gut versorgt.
  3. Hinter der bayrischen Grenze liegt keine größere Klinik. So sieht es auch am Obersee schlecht aus.
  4. Dogern am Hochrhein läge mit 91 Minuten Fahrtzeit am weitesten von der nächsten Klinik entfernt.

Plötzlich gibt es zuhauf Gegenden, in denen die Anfahrt eine Stunde oder länger dauert, insbesondere die Kommunen am Obersee und am Hochrhein wären betroffen. Allerdings ist die neue Klinik in Albbruck, die 2027 eröffnen soll, in der Berechnung nicht berücksichtigt.

Wem jetzt Angst und Bange wird, der sei beruhigt. Es handelt sich lediglich um ein Gedankenexperiment, die Forderungen der Bertelsmann-Stiftung sind extrem und stoßen auf breite Kritik. Zudem bedeutet eine kürzere Anfahrt nicht automatisch, dass man qualitativ besser versorgt wird.

Auch das Sozialministerium plant keine solche Revolution. Es verstehe sich von selbst, dass bei der Umgestaltung der Klinik-Landschaft „die Erreichbarkeit medizinischer Leistungen vor allem im Notfall eine entscheidende Rolle spielt“, sagt die Sprecherin des Ministeriums. Allerdings gebe es „notwendige Veränderungen“, die „konsequent, aber mit Augenmaß“ angestoßen werden müssen.

 

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So sind wir vorgegangen

Die Daten der Krankenhäuser stammen aus dem Deutschen Krankenhausverzeichnis. Wir haben die Kliniken herausgefiltert, die mindestens eine Fachabteilung Innere Medizin oder Allgemeine Chirurgie unterhalten. Damit dürften die meisten Gebrechen, wegen der Menschen ins Krankenhaus kommen, abgedeckt sein. Gleichzeitig finden kleine Privatkliniken mit nur einer Hand voll Betten oder hochspezialisierte Häuser, die man im Notfall eher nicht ansteuern würde, keine Berücksichtigung.

Welche Krankenhäuser Stroke-Units betreiben, wissen wir aus der Schlaganfallkonzeption des Sozialministeriums, die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie führt eine Liste der Kliniken mit Chest-Pain-Units.

Bei der Berechnung der Entfernungen zwischen Klinik und Kommune gingen wir vom jeweiligen Zentrum der Orte aus. Berücksichtigt wurden auch Krankenhäuser in benachbarten Bundesländern, allerdings keine in der Schweiz und in Frankreich. Die Fahrtdauer haben wir mithilfe des Openrouteservice errechnet, der wiederum auf die Openstreetmap aufsetzt.