Herr Kretschmer, wie spricht man Ihren Namen richtig aus? In den Nachrichten ist oft ein langgezogenes „Kreeetschmer“ zu hören, dem Baden-Württemberger liegt eher das knappe Kretschmer, das dann aber wiederum leicht mit Kretschmann verwechselt werden kann. Was Ihnen vermutlich nicht so recht ist, oder?

Also Frau Merkel sagt auch regelmäßig Michael Kretschmann zu mir. Ich höre auch darauf. Meine Großeltern sind Vertriebene aus Schlesien und die Schlesier haben eine eigenartige Aussprache. Daher kommt wohl, dass wir den Namen mit einem langen E sprechen.

Während ja Winfried Kretschmann in jungen Jahren dem Maoismus nahestand, waren Sie in jungen Jahren Kohl-Fan. Hatten Sie auch ein Poster von Kohl in Ihrem Zimmer?

Ja. Ich hatte eine kurze Zeit sogar eine Wand mit ganz vielen Wahlplakaten – und da war auch Helmut Kohl dabei.

Wie kam die Liebe zu Kohl?

Ich war 14 Jahre, als die friedliche Revolution begann. Es war alles möglich, man konnte auch als Jugendlicher viel selbst machen. Die Welt stand auf einmal offen – und das hat mich fasziniert.

Ist Kohl bis heute Vorbild?

Helmut Kohl war eine beeindruckende Persönlichkeit, weil es ohne ihn die deutsche Einheit nicht gegeben hätte. Er genoss unheimlich viel Vertrauen in der westlichen Welt. Natürlich hatte er auch Ecken und Kanten, wie wir alle. Aber ohne ihn wäre vieles nicht möglich gewesen.

Seit Kohl hat sich die CDU stark verändert, ist weniger konservativ geworden. Gut so?

Gott sei dank hat sie sich verändert, sonst wäre sie jetzt nicht mehr da. Kohl war übrigens, als er damals Parteivorsitzender wurde (1973), der modernste Politiker der CDU. Und auch Franz-Josef Strauß würde heute andere Reden halten als 1988, das ist vollkommen klar. Wichtig ist, dass wir unser Koordinatensystem behalten als eine Partei, die für Freiheit steht und für soziale Marktwirtschaft.

Sie gelten ja als AfD-Bezwinger. Anders als in Thüringen und Brandenburg gelang es in Sachsen bei den Landtagswahlen im vergangenen Jahr, die AfD auf die Distanz zu halten. Wie haben Sie das geschafft?

Die Wahrnehmung vieler politischer Themen unterscheidet sich zwischen Konstanz und Görlitz in vielen Punkten sehr. Deswegen sind für mich diese Begegnungen wie heute Abend sehr interessant. Deshalb wünsche ich mir, dass in diesem 30. Jahr der deutschen Einheit viele Menschen aus Ost und West zusammenkommen, sich austauschen und sich auch darüber unterhalten, wie es zum Beispiel funktioniert, mit 20, 30 Prozent Migranten zu leben, wie man es in Baden-Württemberg seit längerem kennt. Ich bin dem immer entgegengetreten, wenn die Leute behaupteten, mit Muslimen könne man nicht zusammenleben. Das ist dummes Zeug! Sie wissen das hier viel besser. Wir haben viel mit den Leuten gesprochen vor der Wahl, Sorgen genommen, wenn es um Sicherheit ging oder Zukunft im ländlichen Raum. Und das kam bei den Sachsen an.

Sie haben einen Wahlkampf geführt, bei dem Sie sehr viel vor Ort waren, Gespräche geführt haben. Haben Sie etwas Neues gelernt über Ihr Land?

Ja, dass die Menschen sehr weit weg waren von der Politik. Dass sie gar kein Zutrauen mehr hatten in die Politik. Was wir jetzt angefangen haben, ist, dass wir uns wieder mehr zutrauen. Wenn uns etwas stört, sehen wir zu, dass wir es verändern. Es ist der AfD zum Teil gelungen, aber auch der Linkspartei, die Lebensleistung der ersten 20 Jahre nach der Wende zu zerstören. Die 90er-Jahre waren dunkle Jahre – es roch überall nach Braunkohle, die Häuser waren nicht saniert, es gab viele Rechtsextreme, es gab diese große Arbeitslosigkeit. Auch ich habe zunächst keine Lehrstelle bekommen, viele gingen weg. Aber die Leute haben das durchgekämpft und Sachsen steht jetzt stark da. Zu dem Zeitpunkt kommen zwei politische Akteure und behaupten, dass das alles Mist ist und die Ostdeutschen immer noch Deutsche zweiter Klasse. Das hat offenbar verfangen – dabei ist es dummes Zeug. Und das, was vor uns liegt, ist doch eine machbare Aufgabe.

Die Westdeutschen schauen – manchmal vielleicht überheblich – in den Osten und staunen, dass ausgerechnet im schönen Dresden eine Gruppierung wie Pegida aufkommt. Obwohl in Sachsen nur 4,4 Prozent Ausländer leben. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Erstens schaut der Westen überhaupt nicht überheblich. Wir sind sehr dankbar für die Unterstützung aus dem Westen in der Nachwendezeit. Mein Vater hat Anfang der 90er-Jahre jemanden kennengelernt, der ihm den ersten VW-Bulli gegeben hat, damit er seine Firma aufbauen kann. Hunderttausende solche Beispiele gibt es. Sie haben absolut recht, wenn Sie sich fragen, was da los ist mit Pegida. Aus meiner Sicht sind da auch von politischer Seite Fehler passiert. Es ist nicht mit den Leuten gesprochen worden, als sie angefangen haben, sich Sorgen zu machen. Es gab eine Stigmatisierung. All diejenigen, die gefragt haben „Geht das mit dieser Flüchtlingszuwanderung?“, wurden sehr schnell in die rechte Ecke gestellt. Erst als mein Vorgänger Stanislav Tillich angefangen hat, mit den Leuten zu reden und ihnen klargemacht hat, dass die angebliche Umvolkung, von der die AfD spricht, dummes Zeug ist, hat sich etwas geändert. Aus den 20 000 bis 30 000 Demonstranten sind dann auch irgendwann 1000 geworden. Man muss reden, es hilft nichts.

Wünschen Sie sich für Ihre Heimat manchmal die Konstanzer Probleme? So wie Klimanotstand und hohe Mieten?

Wenn man diese Region, den Großraum Konstanz-Zürich, mal mit der stärksten Region in den neuen Bundesländern, Sachsen, vergleicht, sieht man den Unterschied. Das, was bei uns noch kommen muss. Ob ich mir die Probleme wünsche? Sie haben einen anderen Umgang damit, der ist weder richtiger noch falscher. Ich habe die Diskussion ums Feuerwerk genau verfolgt: Schaffen wir‘s ab, oder will es die Bevölkerung doch? Das ist doch spannend! Ich wünsche mir ganz viel Bürgerbeteiligung: Wenn die Leute entscheiden, dass sie kein Feuerwerk mehr wollen, dann ist das okay, weil sie es nämlich so entschieden haben.

Ist das der Weg, um die Menschen wieder mehr für Demokratie zu begeistern?

Wir machen überall, wo es geht, Bürgerbeteiligung. Als wir vom Bund 50, 60 Millionen Euro für Kindergärten bekommen haben, haben wir alle Eltern und Erzieherinnen gefragt: Kostenloses Essen? Kostenfreies Kindergarten-Jahr? Mehr Personal? Beide Gruppen haben sich für mehr Personal entschieden, und so haben wir es jetzt auch gemacht.

Fragen: Angelika Wohlfrom