„Ich wünsche, ich wäre tot“, sagte Amirali Hadschisadeh, ein General der iranischen Revolutionsgarde, drei Tage nach dem Absturz der ukrainischen Verkehrsmaschine bei Teheran. Hadschisadeh musste einräumen, dass seine Soldaten den Passagierjet für eine amerikanische Rakete hielten und vom Himmel holten: 176 Menschen starben, darunter viele Iraner und Kanadier iranischer Herkunft. Dass die Elitetruppe des Iran öffentlich zugeben muss, dass sie ein Verkehrsflugzeug nicht von einer feindlichen Rakete unterscheiden kann, ist eine Demütigung für die machtgewohnten Gardisten.

Die Revolutionsgarde soll die Islamische Republik verteidigen – doch stattdessen verstärkt ihr Verhalten eine Legitimitätskrise, die für das Regime gefährlicher ist als die Wirtschaftssanktionen der USA. Tausende Demonstranten gingen am Samstag und Sonntag auf die Straße, um gegen die Garde, die Regierung und Revolutionsführer Ali Khamenei zu demonstrieren.
Spott über Revolutionsgarde
Selbst viele Regierungsgegner im Iran hätten der Garde lange zu Gute gehalten, dass sie das Land zumindest vor Angriffen von außen schütze, sagt der in Hamburg lebende iranische Exil-Journalist Omid Rezaee. Nun stelle sich heraus, dass die Garde nicht einmal ein Verkehrsflugzeug in der Nähe der Hauptstadt korrekt identifizieren könne, sagte Rezaee unserer Zeitung in Istanbul. Das habe den Ruf der Truppe stark erschüttert. Inzwischen werde die Garde von Demonstranten auf offener Straße kritisiert und verspottet. „Das ist etwas Neues für den Iran“, sagt Rezaee.
Die Garde ist die Elite der iranischen Streitkräfte und die Speerspitze der offensiven iranischen Politik im Nahen Osten. Das Korps wurde kurz nach der Revolution von 1979 gegründet, weil die damals neue Führung unter Ajatollah Ruhollah Khomeini der Armee des gestürzten Schahs nicht traute. Über die Jahre weitete die Garde ihre militärische, wirtschaftliche und politische Macht aus. Heute verfügt sie über mehr als hunderttausend Soldaten sowie Marine- und Luftwaffenverbände – sie ist eine Art Parallel-Armee neben den regulären Streitkräften. Zudem kontrolliert die Garde, die direkt Khomeinis Nachfolger Khamenei untersteht, viele große Wirtschaftsunternehmen.
Soleimanis Tod schwerer Schlag für religiöses System des Irans
Ihr populärster General war Qassem Soleimani, der als Chef der Auslandstruppe der Garde die Nahost-Politik des Iran steuerte. Soleimanis Ermordung durch einen US-Drohnenangriff am 3. Januar war deshalb ein schwerer Schlag für das gesamte theokratische System. Als Antwort schoss die Garde vergangene Woche 15 Raketen auf Militärstützpunkte im Irak, die von der US-Armee genutzt werden.
Regierung steht als Lügner da
Auf die militärische Schwächung durch Soleimanis Tod folgte die moralische durch den Abschuss des ukrainischen Flugzeugs. International steht der Iran als Land da, dessen Armee und Regierung nicht nur inkompetent sind, sondern die Welt auch noch tagelang anlügen. Besonders schwer wiegt für die Teheraner Führung die Kritik im Iran selbst. Der angesehene Oppositionspolitiker Mehdi Karroubi forderte den Rücktritt von Khamenei, der als Revolutionsführer der mächtigste Mann im Land und Oberbefehlshaber der Revolutionsgarde ist.

Demonstranten in iranischen Großstädten riefen nicht nur Parolen gegen die Regierung, sondern auch gegen die Revolutionsgarde und Khamenei. „Garde, schämt euch was, lasst das Land in Ruhe“, lautete ein Sprechchor der Demonstranten, wie die iranisch-amerikanische Journalistin Negar Mortazavi auf Twitter berichtete. Andere beschimpften die Gardisten und Khamenei als Mörder.
Auch am Sonntag gingen die Proteste weiter. Sie zeigen das Ausmaß der Legitimitätskrise des Regimes, das sich noch nicht von der Protestwelle des vergangenen Jahres erholt hat. Die damaligen Demonstrationen richteten sich gegen eine drastische Benzinpreiserhöhung, aber auch gegen Misswirtschaft, Korruption und Inkompetenz des Regimes. Die Regierung und die Revolutionsgarde gingen mit brutaler Härte gegen die Kundgebungen vor; mehrere hundert Menschen starben.
Gewalt bleibt unvergessen
Die Erinnerung an den Gewalteinsatz im vergangenen Jahr sei noch frisch, sagte Rezaee. „Die Revolutionsgarde wird für die vielen Opfer verantwortlich gemacht“, sagte er über die getöteten Demonstranten des vergangenen Jahres und die Passagiere des ukrainischen Jets. „Das werden die Leute nicht so schnell vergessen.“
Flugzeuge vom Militär abgeschossen
In den vergangenen Jahrzehnten ist es mehrfach vorgekommen, dass Passagierflugzeuge ohne jede Vorwarnung abgeschossen wurden. Die Maschinen sind Raketenbeschuss hilflos ausgeliefert. Für die Insassen ist die Katastrophe unausweichlich.
- Juli 2014, Osten der Ukraine, 298 Tote: Am 17. Juli 2014 stürzt im Osten der Ukraine eine Boeing 777 der Fluggesellschaft Malaysia Airlines ab. Alle 298 Insassen kommen ums Leben. Wie eine internationale Untersuchung zeigt, wurde der Flug MH17 mit einer BUK-Rakete sowjetischer Bauart gezielt abgeschossen. Die Boeing 777, unterwegs von Amsterdam nach Kuala Lumpur, überflog das Konfliktgebiet im Osten der Ukraine, in dem sich prorussische Separatisten und die ukrainische Armee bekämpfen. Die Separatisten leugnen den Abschuss. Drei Russen und ein Ukrainer sollen sich ab März für den Abschuss verantworten.
- Oktober 2001, Schwarzes Meer, 78 Tote: Am 4. Oktober 2001 explodiert eine Tupolew-154 der russischen Fluggesellschaft Siberia Airlines über dem Schwarzen Meer. Alle 78 Insassen, vor allem Israelis, kommen ums Leben. Eine Woche nach dem Unglück gesteht die Ukraine ein, dass das Flugzeug von einer versehentlich abgeschossenen ukrainischen Rakete vom Himmel geholt wurde.
- Juli 1988, Persischer Golf, 290 Tote: Am 3. Juli 1988 wird ein Airbus A-300 der Fluggesellschaft Iran Air kurz nach dem Start in Bandar-Abbas über dem Persischen Golf abgeschossen. Alle 290 Insassen kommen ums Leben. Die Maschine war vom Süden Irans Richtung Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten unterwegs. Die Besatzung der US-Fregatte „USS Vincennes“ räumt ein, den Airbus bei einer Patrouillenfahrt in der Meerenge von Hormus für einen iranischen Kampfjet gehalten und abgeschossen zu haben. Die USA zahlen an den Iran 101 Millionen Dollar Entschädigung. (AFP)