Jessica Tatti ist schwer durchgetaktet in diesen Tagen. Erst im Oktober wurde auch in Baden-Württemberg ein Landesverband des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) gegründet, bei dem die 43-jährige Reutlingerin zur Co-Landesvorsitzenden gewählt wurde.

Während der frisch gekürte Landesvorstand noch mit dem Aufbau der Strukturen im Land befasst war, platzte in Berlin die Ampel-Regierung – und das BSW musste quasi aus dem Nichts auch im Südwesten einen Bundestagswahlkampf organisieren.

Die gerade mal erst ein Jahr alte Partei regiert zwar inzwischen in zwei Landesparlamenten mit, hatte bis dahin in Baden-Württemberg aber noch kaum Strukturen.

Dunkle Locken, selbstbewusster Blick

Tatti, 43 Jahre alt, in Marbach am Neckar als Kind sardischer Eltern geboren und seit 2017 Bundestagsabgeordnete, lange dunkle Locken, selbstbewusster, offener Blick, scheut Herausforderungen allerdings nicht. Sie führt das BSW im Südwesten gemeinsam mit dem Mosbacher Hochschullehrer Manfred Hentz an. Auf der BSW-Landesliste, die zwölf Personen umfasst, kandidiert Tatti auf Platz 1, vor Hentz. Auf Platz 3 steht der Karlsruher IT-Millionär und Bundesschatzmeister des BSW, Ralph Suikat.

Tatti empfängt in ihrem Wahlkreis-Büro im Zentrum von Reutlingen. Die Räumlichkeiten sind groß, hier ist Platz für noch viele weitere Mitarbeiter. Aus dem Stand schaffte es das BSW in Baden-Württemberg bei der Sonntagsfrage zur Bundestagswahl kurz einmal auf sieben Prozent, mittlerweile ist es auf vier Prozent abgerutscht.

Die bodenständige Linke?

„Da spielt sicher auch der Zauber des Neuen mit“, sagt Tatti zu den zunächst guten Umfragewerten und betont den Unterschied zur Linken. „Das BSW ist gesellschaftspolitisch anders aufgestellt, es ist ökonomisch und sozialpolitisch links und gesellschaftspolitisch konservativ, oder besser formuliert: bodenständig. Das ist eine Kombination, die die Leute anspricht“, meint sie.

Fragen der sozialen Gerechtigkeit treiben Tatti schon seit jeher um und haben ihre Biografie maßgeblich geprägt. „Bildungsgerechtigkeit ist mir ein totales Herzensanliegen“, bekennt sie. Die Überzeugung und der feste Glaube daran, dass, wer sich anstrengt, etwas erreichen kann, wurde ihr im Elternhaus mitgegeben. Als Sprachrohr für Menschen mit Migrationshintergrund fühlt sich Tatti zwar nicht, „aber ich kann vieles nachvollziehen, wenn es um Aufstiegsbiographien geht.“

Im Sozialen ist sie zuhause

Sie studierte Soziale Arbeit in Ludwigsburg, arbeitete nach dem Abschluss in der Jugendarbeit in Reutlingen, später beim Sozialdienst bei der Flüchtlingsbetreuung der Arbeiterwohlfahrt in Esslingen, sie ist bei Verdi, im Mieterbund, war im Vorstand der Arbeiterbildung und im Flüchtlingsrat aktiv.

2010 trat sie der Linken bei, saß im Reutlinger Gemeinderat. 2017 und 2021 zog sie über ein Zweitmandat ihrer Partei für den Wahlkreis Reutlingen in den Bundestag ein, Schwerpunkt ihrer Arbeit: Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. „Heute gilt das Aufstiegsversprechen von früher nicht mehr“, sagt sie, und dass Rentner nach einem arbeitsreichen Leben mit Altersarmut konfrontiert sind, macht sie wütend.

Von der Linken langsam entfremdet

Ihr Bruch mit der Linken kam im Oktober 2023, als Tatti mit der Vorstellung des Vereins BSW gemeinsam mit neun weiteren Bundestagsabgeordneten aus der Linkspartei austrat und im Januar 2024 Mitglied der auf dem Verein aufgebauten Partei Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) wurde. Eine Entfremdung, die sich für sie abgezeichnet hatte. „Die Linke, aus der ich ausgetreten bin, war eine andere Partei, als die, in die ich eingetreten bin“, begründet sie den Schritt.

Die Positionierung der Linken zur Asylpolitik und Migration, zur Antidiskriminierungsdebatte oder dem Klimaschutz mochte sie nicht mehr uneingeschränkt teilen. „Das ging weg von den Themen Altersarmut, von Rentnern, Niedriglohnsektor, Bildungsgerechtigkeit, Weiterbildung, Kitas“, sagt sie.

Der erhobene Zeigefinger der Linken habe sie gestört und vor allem die „Ausrichtung der Linken auf enttäuschte grüne Klientel, das fand ich falsch.“ Sahra Wagenknecht dagegen habe sie schon in den Auseinandersetzungen und Richtungsstreitigkeiten bei der Linken als Ausnahmepolitikerin wahrgenommen, „ganz klar in ihren Positionen“, sagt Tatti.

Vertraute von Wagenknecht

In der neu formierten zehnköpfigen BSW-Gruppe im Bundestag ist Tatti als parlamentarische Geschäftsführerin rechte Hand und enge Vertraute der Vorsitzenden Wagenknecht. Verbindet die Frauen ein freundschaftlicher Kontakt? „Ich glaube, das kann man so sagen“, sagt Tatti. Ihren Platz in der näheren Zukunft jedenfalls sieht die BSW-Landesvorsitzende weiter in Berlin.

Die Kritik am BSW als einer Kaderpartei, die nur eine kleine Zahl an handverlesenen Mitgliedern aufnehme, weist die 43-Jährige zurück. „Wir wollen unsere Mitglieder kennenlernen und vermeiden, dass die Partei so schnell wächst, dass sich dadurch die Richtung ändert. Wir setzen auf ein kontrolliertes, langsames Wachstum.“

In Baden-Württemberg hat das BSW neben etwa 3000 registrierten Unterstützern, die zwar eingebunden und informiert werden, aber keine Mitgliedsrechte haben, aktuell laut Tatti etwa 70 Mitglieder. Wie viele auf der Warteliste stehen, sagt sie nicht. „Aber bundesweit gibt es etwa 14.000 Mitgliederanträge.“

In Baden-Württemberg tritt das BSW zur Bundestagswahl am 23. Februar nicht in den einzelnen Wahlkreisen an, sondern ausschließlich mit der von Tatti angeführten Landesliste. „Für eine Partei, die im Aufbau ist, ist es schwer möglich, in allen Wahlkreisen mit Direktkandidaten anzutreten“, sagt die 43-Jährige dazu.

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Linke punktet in Migrationsdebatte

Ihre alte Partei, die Linke, macht unterdessen in den Umfragen Boden gut. Bei den Mitgliederzahlen hat die Migrationsdebatte und die umstrittene Abstimmung im Bundestag mit der AfD – auch durch BSW-Abgeordnete – der Linken in die Karten gespielt: Zwei Wochen vor der Wahl registriert die Partei 81.210 Mitglieder, teilte ein Sprecher am Dienstag mit. Allein seit Jahresbeginn seien 23.473 Menschen der Partei beigetreten, davon 17.470 seit dem 29. Januar, als bei einer Bundestagsabstimmung über einen Unionsantrag zur Migrationspolitik erstmals eine Mehrheit mit Unterstützung der AfD zustande kam.

Linken-Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek landete mit ihrer Rede einen Internet-Hit, gerade bei Jüngeren kommt ihre klare Kante gegen Rechts gut an. BSW-Chefin Sahra Wagenknecht knüpft unterdessen ihr politisches Schicksal an den Einzug ihrer Partei. „Die Wahl ist natürlich auch die Entscheidung über meine politische Zukunft“, sagt sie.

Einen Sieg hat Jessica Tatti indes schon vor der Wahl errungen: Nach einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg muss der SWR das BSW an diesem Mittwoch zur Sendung „Wahlarena Baden-Württemberg“ einladen. Ursprünglich hatte der SWR nur Spitzenpolitiker von CDU, SPD, AfD, Grünen und FDP eingeladen. Nun kommt neben der Linken – die ebenfalls Beschwerde einreichte – auch das BSW mit Jessica Tatti in die Wahlarena.