„Privilegierter Zugang zum Binnenmarkt setzt voraus, dass alle die gleichen Regeln und Pflichten respektieren“, lautete die Reaktion der EU-Kommission auf die Absage der Schweiz zum Rahmenabkommen. Doch genau dazu war die Schweiz nicht in allen Punkten bereit. Die Schweiz hatte bis zuletzt darauf beharrt, Streitfragen zu entsendeten Arbeitnehmern und dem Schweizer Lohnschutz, Staatsbeihilfen sowie zur Personenfreizügigkeit auszuklammern.

„Der Abbruch der Verhandlungen kam nicht überraschend“

Nun ist klar: Das Rahmenabkommen, ein Vertragswerk, das 120 Einzelverträge bündeln und modernisieren sollte und den Weg für neue Bereiche der Zusammenarbeit bereiten sollte, wird es so nicht geben.

In der Region reagieren Politik und Handel mit Kritik auf die Absage. Doch der CDU-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzender der Deutsch-Schweizerischen Parlamentariergruppe, Felix Schreiner, sagt dem SÜDKURIER: „Der Abbruch der Verhandlungen durch die Schweiz kam nicht überraschend und hatte sich in den letzten Wochen angebahnt.“

„Wer mit grenzübergreifender Zusammenarbeit in unserer Region zu tun hat, weiß, dass es keine Alternative zu einem institutionellen Rahmenabkommen gibt“, sagt die europapolitische Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion, Sabine Hartmann-Müller: „Im Sinne der Menschen auf beiden Seiten des Hochrheins richte ich daher einen dringenden Appell an den Schweizer Bundesrat, bald wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren.“

Schwab:  EU wird weiter mit Schweiz verhandeln

Auch die SPD-Bundestagsabgeordnete und Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter kritisiert die Entscheidung scharf: „Mit dem Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen ignoriert die Schweiz nicht nur Lebenswirklichkeit, sie baut mitten in Europa Hürden auf, die den international notwendigen Transformationsprozess in eine nachhaltige Zukunft absehbar erschweren könnten.“

„Die offenen Fragen im Verhältnis Schweiz-EU bleiben, kein Problem wird mit einer Ablehnung des Rahmenabkommens gelöst“, sagt auch Andreas Schwab dem SÜDKURIER. Schwab glaubt deshalb nicht, dass die Gespräche am Ende sind: „Die Europäische Union wird immer mit der Schweiz weiterverhandeln – im Interesse der Bürger, die morgens aus Frankreich nach Genf fahren, um dort im Kantonsspital wertvolle Arbeit zu leisten, oder für die Bewohner von Basel, die abends in Deutschland steuerfrei Lebensmittel einkaufen, weil sie sich diese in der Schweiz kaum mehr leisten können. Wir brauchen weiter pragmatische Lösungen für die Menschen in der Region“, fordert er.

Auswirkungen vor allem auf künftigen Handel

Das ist auch für die Schweiz von Belang. Nach EU-Angaben leben 1,4 Millionen EU-Bürger in der Schweiz, darunter 300.000 Deutsche. 340.000 EU-Bürger pendeln täglich über die Grenze. Allein in Südbaden leben mehr als 60.000 Grenzgänger. Für die Region und ihre Grenzgänger bedeutet das zunächst wenig Veränderung, denn die Einzelverträge bleiben wie bislang auch bestehen.

So regeln die bisherigen bestehenden bilateralen Marktzugangsabkommen zu Personenfreizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr, technischen Handelshemmnissen (gegenseitige Anerkennung) und Landwirtschaft den Marktzugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt und unter welchen Bedingungen EU-Bürger in der Schweiz leben und arbeiten können auch weiterhin.

Doch Dienstleister haben es damit weiterhin schwer: Sie müssen aufwendig und frühzeitig ihre Dienstleistungen anmelden und Kautionen hinterlegen. Hürden, die inländischen Anbietern einen Wettbewerbsvorteil bieten. „Die Schweiz ist ein wichtiger Markt für unsere Betriebe. Die dort zu beachtenden Regeln erschweren jedoch den Geschäftsalltag“, bestätigt auch der baden-württembergische Handwerkstag.

Einzelhandel könnte leiden

Lange Wartezeiten im Meldeverfahren und der damit verbundene bürokratische Aufwand verhinderten, schnell auf Kundenanfragen reagieren zu können. Das Rahmenabkommen hätte die Anmeldefristen deutlich verkürzt. So aber bleibt die achttägige Anmeldefrist.

Karin Keller-Sutter, Justizministerin der Schweiz, Guy Parmelin, Bundespräsident der Schweiz, und Ignazio Cassis, Außenminister der ...
Karin Keller-Sutter, Justizministerin der Schweiz, Guy Parmelin, Bundespräsident der Schweiz, und Ignazio Cassis, Außenminister der Schweiz, sprechen bei einer Pressekonferenz über die Gründe ihrer Entscheidung. | Bild: Peter Schneider

Luzie Schmitt, Sprecherin beim Landeswirtschaftsministerium, macht klar: „Neue und abweichende rechtliche Regelungen erschweren zukünftig baden-württembergischen Unternehmen den Marktzugang in der Schweiz sowie auch Schweizer Unternehmen den Zugang zum EU-Binnenmarkt und sind verbunden mit erhöhten Kosten und längeren Lieferzeiten, da aufwendige Zertifizierungsverfahren für Produkte durchlaufen werden müssen.“

Auch EU-Abgeordneter Schwab geht davon aus, dass „mittelfristig Einschränkungen beim Marktzugang für die Schweizer Unternehmen“ entstehen.

Bundestagsabgeordneter Schreiner geht noch weiter: Der Einzelhandel in den Grenzregionen könne ebenfalls mittel- und langfristig leiden, glaubt er. Denn die Kaufkraft der Schweizer Kunden könnte sich durch die veränderte wirtschaftliche Lage der Schweiz ohne Rahmenabkommen verringern. „Regionale Auswirkungen könnten wir zudem spüren, wenn aufgrund stagnierender Handelsbeziehungen Pendlerarbeitsplätze verloren gingen“, mahnt er.

Neue Felder wie Gesundheit oder das geplante Strommarktabkommen kommen gar nicht erst zustande. Es hätte natürlich auch auf deutscher Seite die Stromversorgung in Zeiten des Umstiegs auf neue Energiearten gesichert, sagt Schwab. Denn die Schweiz hat beschlossen, ihre Stromerzeugung zu dekarbonisieren. Davon hätten beide Seiten profitieren und eng kooperieren können, glaubt auch Schreiner.

Marktzugänge eingeschränkt

Handelshemmnisse drohen schon bald für Medizinprodukte. Am 26. Mai ist eine neue Verordnung der EU in Kraft getreten, wodurch die Schweizer Regeln nicht mehr auf dem aktuellsten Stand sind. Die Schweiz hat Vorsichtsmaßnahmen getroffen und eine Übergangsphase eingerichtet, damit Hersteller zunächst weiter ohne zusätzlichen Aufwand in der Schweiz verkaufen können.

Doch danach müsste etwa der regionale Produzent für medizinische Einlegesohlen in der Schweiz eine Registrierung beantragen, damit sein Produkt für den dortigen Markt zertifiziert wird. Schweizer Unternehmen müssten zusätzliche Zertifizierungen für den EU-Binnenmarkt beantragen. „Das kostet Geld und muss sich auch erst einmal lohnen“, gibt Bundestagsabgeordneter Schreiner zu bedenken.

Auch die Datenschutzgrundverordnung ist ein offener Punkt: Wenn deutsch-schweizerische Unternehmen Informationen austauschten, könnte das wegen der bislang fehlenden Anerkennung der Gleichwertigkeit des Datenschutzes künftig zu aufwendiger Bürokratie führen, warnt der Geschäftsführer der IHK Bodensee-Hochrhein, Uwe Böhm.

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Die EU wird zudem im Bereich Maschinenbau eine neue Verordnung auf den Weg bringen. Sie tritt je nach Beschluss voraussichtlich 2023 in Kraft. Davon könnten besonders Zulieferer betroffen sein, die aus der Schweiz Teile für die deutsche Produktion in Baden-Württemberg liefern. Nach Böhms Einschätzung ist die Schweiz hier dagegen weniger abhängig von der EU, Firmen seien oft hoch spezialisiert und selbst in der Lage, Einzelteile herzustellen oder könnten sich mit Zulieferern außerhalb der EU behelfen.

Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut betont: „Für Baden-Württemberg ist die Schweiz ein wichtiger und verlässlicher Partner in der Wirtschaft, aber auch in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.“ Sie verspricht, „die negativen Auswirkungen dieser Entwicklung auf die sehr guten Beziehungen zu unseren Partnern in der Schweiz so gering wie möglich zu halten und diese auch zukünftig intensiv zu pflegen.“

In der Region hofft man indes auf einen Neubeginn der Gespräche auf EU-Ebene. Der Bürgermeister der Grenzstadt Waldshut-Tiengen, Philipp Frank, wünscht sich, „dass es doch noch einmal gelingt, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen.“ Schwab ist davon überzeugt, „dass wir spätestens mit der nächsten Schweizer Regierung genau über die gleichen Fragen wieder reden werden.“