Als die ukrainische Sängerin Jamala am 24. Februar in Kiew von Explosionen geweckt wurde, kam ihr das Schicksal ihrer Eltern und Großeltern in den Sinn. Geschockt und verzweifelt sei sie an diesem Morgen gewesen, berichtet die 38-jährige Künstlerin jetzt. Jamala ist Krim-Tatarin – Angehörige einer Minderheit auf der Halbinsel im Schwarzen Meer, die 1944 von Sowjet-Diktator Josef Stalin deportiert wurde. Jamal verarbeitete das Trauma in dem Lied „1944“, mit dem sie vor sechs Jahren den Eurovision Song Contest gewann. Jetzt wurde sie selbst vertrieben: Mit ihren zwei kleinen Kindern floh Jamala vor dem russischen Angriff nach Istanbul. Am heutigen Freitag singt sie als Ehrengast beim deutschen ESC-Vorentscheid, der laut ARD „im Zeichen der Solidarität mit der Ukraine“ stehen soll.
Vier Tage brauchte Jamala von Kiew bis zur Grenze, dort musste sie sich von ihrem Mann trennen, der in der Ukraine blieb. Auf ihrer Flucht in die Türkei filmte sich die Musikerin mit dem Handy und veröffentlichte die Aufnahmen auf Instagram: im schwarzen Trainingsanzug auf dem Auto-Rücksitz zwischen Decken und Taschen gekauert, ungeschminkt und erschöpft, ihre beiden kleinen Kinder an sich gedrückt. Mit Unterstützung von Freunden und Verwandten konnte sie sich nach Istanbul durchschlagen.
Vertreibung Teil ihrer Familiengeschichte
Für die Sängerin, die bürgerlich Susana Jamaladinova heißt, ist es schon die dritte Vertreibung in ihrer Familiengeschichte. Im Mai 1944 ließ Stalin binnen weniger Tage hunderttausende Krim-Tataren von den sowjetischen Behörden nach Zentralasien deportieren, unter ihnen Jamalas Urgroßmutter mit fünf Kindern. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnten die deportierten Tataren ein halbes Jahrhundert später in ihre Heimat zurückkehren – so auch die Familie von Jamala. Sie selbst wurde in Kirgisistan geboren, wo ihre Eltern sich in der Verbannung kennengelernt hatten.
Offener Protest gegen die Annektierung der Krim
Seit Russland 2014 die Krim besetzte, kann Jamala ihre Heimat auf der Krim nicht mehr besuchen. Die russische Annexion wurde von der Welt schulterzuckend hingenommen, doch die Sängerin engagierte sich stets leidenschaftlich gegen das Vergessen. „250 000 Tataren sind noch auf der Krim, darunter auch meine Eltern. Ich tue mein Bestes, um die Ukraine und die Welt an sie zu erinnern. Das versuche ich auch mit meiner Musik und indem ich das auf der Bühne thematisiere“, sagte sie in einem Video.
Wegen ihrer offenen Proteste hat Jamala seit dem russischen Einmarsch vor acht Jahren nicht mehr in ihr Heimatdorf Kücük Özen auf der Krim zurückkehren können: Nur per Telefon kann sie mit ihren Eltern sprechen, die weiterhin dort leben, und nur per Video konnte sie ihnen die Enkel zeigen, als die fern von der Krim geboren wurden – so wie sie einst selbst.
Vertreibung Thema ihres Gewinner-Songs von 2016
Ihr siegreicher ESC-Beitrag von 2016 behandelt die Tragödie der stalinistischen Vertreibung: „Fremde kommen in euer Haus und töten euch alle. Dazu sagen sie, sie hätten keine Schuld“, heißt es in dem Lied. „Wo ist euer Gewissen? Die Menschheit schreit auf. Ihr haltet euch für Götter, aber alle sterben.“ Der Refrain ist in krimtatarischer Sprache verfasst, die dem Türkischen nahesteht: „Yasligima toyalmadim. Men bu yerde yasalmadim“ – das bedeutet: „Ich habe meine Jugend nicht leben können, denn ich hatte keine Heimat.“
Wegen dieses Textes gab es 2016 Kontroversen um ihre Auswahl für die Eurovision: Zu politisch für die Eurovision sei er, sagten Kritiker, denn die Regeln des Wettbewerbs verbieten politische Aussagen. Jamala argumentierte, dass es in dem Lied nicht um die aktuelle Annexion der Krim gehe, sondern um ein historisches Ereignis – und konnte damit nicht nur die Veranstalter überzeugen, sondern auch die Herzen der Fans erobern: Mit einer Rekordpunktzahl ging sie als strahlende Siegerin aus dem Wettbewerb hervor.
Als Flüchtling in Istanbul
Jetzt meldete sie sich aus Istanbul zurück. „Es klingt verrückt, aber eigentlich wollte ich diese Woche mit meinem Team nach Istanbul kommen, um hier ein Musikvideo für mein neues Lied zu drehen“, sagte sie. „Aber nun ist mein ganzes Leben über den Haufen geworfen, und ich bin als Flüchtling hier.“
Blass, verstört und aufgewühlt wirkte die Künstlerin, als sie in Istanbul vor die Presse trat – nur einen Tag, nachdem sie nach einwöchiger Flucht über Rumänien in der Türkei ankam: „Meine Urgroßmutter musste 1944 morgens früh um fünf mit ihren fünf Kindern innerhalb von 15 Minuten ihre Sachen packen und ihre Heimat verlassen, als die Krimtataren von Stalin deportiert wurden. Niemals im Leben hätte ich geglaubt, dass ihr Schicksal auch mich ereilen würde.“ Wenn Jamala heute beim deutschen ESC-Vorentscheid ihr Lied über 1944 singt, hofft sie, dass die Welt diesmal ihre Botschaft hört.