Wie geht die Wahl aus und wer schafft den Einzug in den Bundestag? Ehrlich gesagt, wir wissen es nicht, die Zukunft kennt keiner. Nicht die Umfrageinstitute, die sich mit den Prognosen beschäftigen, genauso wenig wie der Freiburger Politikwissenschaftler Uwe Wagschal, der mit seinem Team fleißig Berechnungen anstellt. Aber es gibt Vermutungen.
Wagschals Interesse an dieser Wahl hat auch damit zu tun, dass diesmal einiges anders laufen dürfte als bei allen bisherigen Bundestagswahlen. 2023 wurde das Wahlrecht geändert – und das hat Folgen: Zunächst mal die beabsichtigte, dass der Bundestag nicht weiter aufgebläht wird, sondern auf die Zahl von 630 Abgeordneten begrenzt wird.
Das wird dadurch erreicht, dass Überhang- und Ausgleichsmandate nicht mehr vergeben werden. Entscheidend für die Sitze im Parlament ist nicht mehr die Zahl der Direktmandate, sondern der Anteil bei den Zweitstimmen.
Die unschöne Nebenwirkung: Nicht mehr jeder Wahlkreissieger wird automatisch in den Bundestag einziehen. Erzielt eine Partei mehr Direktmandate als Zweitstimmen, wird es für die Kandidaten eng, die ihren Wahlkreis nur knapp errungen haben.
Wagschal und seine Kollegen halten nach ihren Berechnungen und Simulationen ein Szenario für wahrscheinlich, bei dem über 30 Wahlkreisgewinner, die über die Erststimmen ihren Wahlkreis gewonnen haben, nicht im Bundestag vertreten sein werden. „Im Extremfall könnte diese Zahl auf über 40 anwachsen“, so die Studie.
Dass er das für ein Problem hält, daraus macht Wagschal kein Geheimnis: Bei den Wählern könnte es durchaus zu Frust führen, wenn sie der Meinung sind, dass ihre Stimme nicht wahrgenommen wird, weil ihr gewählter Wahlkreiskandidat nicht in den Bundestag einzieht. Und das ist nicht alles: Das neue Wahlrecht kann auch dazu führen, dass einzelne Wahlkreise überhaupt nicht mehr im Bundestag repräsentiert werden.
Was bedeutet das für Baden-Württemberg?
So viel zu den demokratietheoretischen Überlegungen. Aber was heißt das denn ganz praktisch für die Abgeordneten in unserer Region?
Gerade in Baden-Württemberg wird sich das neue Wahlrecht auswirken. Der Grund: Die CDU holt hier traditionell fast alle Direktmandate, aber längst keinen entsprechend hohen Anteil bei den Zweitstimmen. Wagschal und seine Kollegen haben auf Grundlage der Umfragewerte vom Dezember verschiedene Szenarien errechnet: Beim ersten (“All in“) schaffen es FDP, Linke und BSW, die sich um die Fünf-Prozent-Hürde herum bewegen in den Umfragen in den Bundestag, beim zweiten Szenario bleiben alle draußen, ein drittes geht von einer Mischung aus.
Im Szenario eins hätte die CDU acht ungedeckte Erstmandate, im zweiten Szenario dagegen nur drei. Gewinnen die Grünen drei statt nur einen Wahlkreis, sinkt die Zahl der ungedeckten Wahlsieger bei der CDU.
Wer reinkommt, hängt von vielen Dingen ab: vom Zweistimmenergebnis, von der Wahlbeteiligung, von der Zahl der Parteien, die es über die Fünf-Prozent-Hürde schaffen, und dem förderalen Proporz der Parteien, nach dem die Sitze auf die Bundesländer verteilt werden.
„Sicher ist nur: Durch den Wegfall der Überhang- und Ausgleichsmandate und die Deckelung des Bundestags auf 630 Sitze werden garantiert nicht mehr 102 Bundestagsabgeordnete aus Baden-Württemberg kommen, sondern weniger“, sagt Politikwissenschaftler Frank Brettschneider von der Uni Hohenheim.
CDU: Urbane Sieger in Gefahr
Gefährdet sind die Wahlkreissieger mit den geringsten Erststimmenanteilen für die CDU. Das wären, legt man die letzte Bundestagswahl zugrunde, die Wahlkreise Karlsruhe-Stadt, Mannheim, Freiburg, Stuttgart I, Heidelberg, Lörrach-Müllheim, Stuttgart II, Tübingen und Heilbronn. Vorwiegend urbane Wahlkreise mit Universitäten oder großen Hochschulen – wo der jeweilige CDU-Kandidat oder die Kandidatin zwar wahrscheinlich wieder die meisten Stimmen holt, aber eher knapp, verglichen mit ländlich geprägten Wahlkreisen.
Wagschal und Kollegen befürchten deshalb eine Polarisierung zwischen Stadt und Land: Städtische Gebiete würden gemäß der Logik der Zweitstimmendeckung im Bundestag von der CDU weniger stark vertreten werden als ländliche Gebiete.
Die CDU-Kandidaten aus den eher ländlich geprägten Wahlkreisen Schwarzwald-Baar, Zollernalb-Sigmaringen, Waldshut und Bodensee dürften hingegen nicht zu den Opfern der neu eingeführten Zweitstimmenabdeckung zählen. Auch der Wahlkreis Konstanz zählt trotz Universität und Hochschule nicht zu den für die CDU riskanten Wahlkreisen – allerdings gehen die Berechnungen nicht auf die Spezifika vor Ort ein.
Ob sich beispielsweise der Protest gegen die gemeinsame Abstimmung mit der AfD auch auf das Ergebnis des Konstanzer CDU-Kandidaten Andreas Jung auswirken könnte, ist völlig unklar. Dagegen spricht, dass der Union das in den Umfragen zuletzt nicht geschadet hat – die Werte gingen tendenziell nach oben.
Die CDU-Abgeordneten Thorsten Frei (Schwarzwald-Baar), Andreas Jung (Konstanz), Felix Schreiner (Waldshut), Thomas Bareiß (Zollernalb-Sigmaringen), Maria-Lena Weiss (Rottweil-Tuttlingen) und Volker Mayer-Lay (Bodensee) dürften also wieder als Direktkandidaten einziehen.
Zu kämpfen haben könnte hingegen Stefan Glaser, der in der Nachfolge von Diana Stöcker für die CDU im Wahlkreis Lörrach-Müllheim antritt: Auch wenn ein Wahlsieg nach Erststimmen wahrscheinlich ist, könnte die Zweitstimmendeckung dazu führen, dass er nicht in den Bundestag einzieht.
Bei den anderen Vertretern hängt der Erfolg neben dem Zweitstimmenergebnis ihrer Partei maßgeblich am jeweiligen Listenplatz.
SPD: Es drohen Verluste
Die SPD kam bei der Bundestagswahl 2021 noch auf 21,6 Prozent der Zweitstimmen im Land. 22 SPD-Abgeordnete aus dem Südwesten schafften damals den Einzug in den Bundestag, davon einer als Direktkandidat (aus Mannheim).
Nach der jüngsten Umfrage von Infratest Dimap im Auftrag des SWR (14. Februar) käme die SPD im Land bei der anstehenden Wahl nur noch auf zwölf Prozent, was die Zahl der Abgeordneten in etwa halbieren dürfte, zumal durch das neue Wahlrecht neben den Überhangmandaten auch die Ausgleichsmandate abgeschafft wurden, durch die SPD, Grüne und FDP mehr Abgeordnete in den Bundestag entsenden konnten.
Der SPD-Bundestagsabgeordneten Rita Schwarzelühr-Sutter (Waldshut), parlamentarische Staatssekretärin im Innenministerium, ist mit dem erneuten Listenplatz drei das Mandat sicher. Einziehen dürfte auch Derya Türk-Nachbaur (Schwarzwald-Baar-Kreis), die sich vom 19. Listenplatz (2021) auf den elften vorgekämpft hat.
Deutlich verbessert in der Landesliste haben sich auch die Konstanzer Abgeordnete Lina Seitzl (von 15 auf 13) und der Bodenseekreis-Kandidat Leon Hahn (von 24 auf 14), dem letztes Mal der Sprung in den Bundestag nicht gelang.
Für beide wird es diesmal knapp: Die Seite mandatsrechner.de, entwickelt vom Waiblinger Wahlrechtsexperten Christian Brugger, kommt aufgrund der Werte von Forsa und Forschungsgruppe Wahlen nur auf zwölf SPD-Sitze aus dem Südwesten, legt man die Umfragewerte von Allensbach, von Insa oder von Infratest zugrunde, bekäme die SPD in Baden-Württemberg sogar nur elf Sitze.
Noch unsicherer ist damit die Lage für die Heike Engelhardt (Ravensburg, Listenplatz 17), Robin Mesarosch (Zollernalb-Sigmaringen, 18) und Mirko Witkowski (Rottweil-Tuttlingen, 27). Engelhardt und Mesarosch würden demnach ihr Mandat verlieren, Witkowski wie 2021 nicht einziehen.
FDP: Es wird knapp
Die FDP brachte es in ihrem Stammland Baden-Württemberg bei der Bundestagswahl 2021 auf 15,3 Prozent der Zweitstimmen. Die baden-württembergische FDP-Landesgruppe war entsprechend stark – 16 der liberalen Abgeordneten sind aus Baden-Württemberg.
Die derzeitigen Umfragen lassen diesmal allerdings ein gänzlich anderes Ergebnis erwarten: Die FDP muss um den Wiedereinzug bangen, die meisten Umfragen sehen die Partei bundesweit derzeit knapp unter der Fünf-Prozent-Hürde. Dass die CDU um Zweitstimmen wirbt, die bislang häufiger taktisch an die FDP vergeben wurden, dürfte die Aussichten der FDP nicht verbessern. Aufgrund des neuen Wahlrechts kann die Union keine Zweitstimmen mehr entbehren.
Selbst in Baden-Württemberg kommt die FDP in Umfragen nur auf fünf Prozent – wenn es bundesweit auch so kommt, wären sie drin, aber schwer dezimiert. Einen halbwegs sicheren Platz (auch hier muss man an die fehlenden Ausgleichsmandate denken) hätte Benjamin Strasser. Der Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Ravensburg und bis zum Bruch der Ampel-Koalition parlamentarische Staatssekretär im Justizministerium steht auf Platz fünf der FDP-Landesliste.
Ordentlich verbessert auf der Landesliste hat sich die Konstanzer Abgeordnete Ann-Veruschka Jurisch – von Platz 14 auf acht. Damit dieser ausreicht, müsste die FDP aber noch einen Satz nach vorne machen. Gemäß den derzeitigen Umfragen chancenlos wären Andreas Anton (Rottweil-Tuttlingen, Listenplatz 14), Mark Hohensee (Schwarzwald-Baar, 18), Nathalie Wagner (Waldshut, 20), Akif Akyildiz (Bodensee, 21), Amir Ismaili (Lörrach-Müllheim, 31) und Boris Kraft (Zollernalb-Sigmaringen, 37).
Grüne: In Baden-Württemberg stabil
Den Grünen trauen die Umfrageinstitute – zumindest in Baden-Württemberg – ein ordentliches Ergebnis zu. Im Land des ersten grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann könnten sie drei Direktmandate erringen und mit 18 Prozent (Infratest/SWR) bei den Zweistimmen sogar etwas zulegen im Vergleich zu 2021 (17,2 Prozent).
Neben vier Direktkandidaten entsandten die Grünen 2021 14 Abgeordnete über die Landesliste nach Berlin. Agnieszka Brugger, Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Ravensburg, ist der Wiedereinzug auf Listenplatz drei erneut sicher.
Jan-Lukas Schmitt, der zum zweiten Mal in Waldshut antritt, hat mit seinem verbesserten Listenplatz (zwölf – zuvor 31) gute Chancen auf den Einzug. Für Jasmin Ateia (Lörrach-Müllheim, 17) dürfte es knapp werden. Nicht drin wären den Umfragen zufolge Marin Juric (Schwarzwald-Baar, 22), Andreas Ragoschke-Schumm (Rottweil-Tuttlingen, 26), Rosa Buss (Konstanz, 31) sowie Ahmad Al Hamidi (Bodensee, 32).
AfD: Verdoppelt sie ihr Ergebnis?
Große Veränderungen sind bei der AfD-Fraktion zu erwarten – sie dürfte erheblich anwachsen. Umfragen sehen die in Teilen rechtsextreme Partei bei 20 Prozent, damit würde sie sich im Vergleich zu 2021 verdoppeln.
Das gilt auch im Südwesten: Hier rechnet Infratest Dimap mit 18 Prozent – 2021 waren es im Südwesten 9,6 Prozent der Zweitstimmen. Zehn AfD-Abgeordnete aus Baden-Württemberg zogen damals in den Bundestag ein – alle über die Liste. Mandatsrechner.de kommt auf der Infratest-Grundlage auf 18 Sitze. Direktmandate, also Wahlkreissiege, werden auch diesmal nicht erwartet.
Mit Listenplatz eins gesetzt ist Spitzenkandidatin Alice Weidel aus dem Bodenseekreis. Auch die Aussichten für Joachim Bloch (Rottweil-Tuttlingen), der auf Listenplatz 13 antritt, sind gut. Sebastian van Ryt (Schwarzwald-Baar) dürfte mit Listenplatz 25 den Einzug eher verpassen. Dasselbe gilt für die übrigen Kandidaten im südlichen Baden-Württemberg, die es nicht auf die Liste geschafft haben.
Linke: Schafft sie es in den Bundestag?
Die Linke hat in den Umfragen zuletzt zugelegt und könnte den Sprung in den Bundestag schaffen. Mandatsrechner.de kommt auf Infratest-Grundlage auf vier Mandate. Drin wären damit unter anderem der ehemalige Konstanzer OB-Kandidat Luigi Pantisano aus Stuttgart (Listenplatz zwei) und der Freiburger Vinzenz Glaser.