Herr Klingbeil, in einem Essay hat Michael Bröcker, der Chefredakteur des Nachrichtenportals „The Pioneer“, Deutschland als überfordertes Land bezeichnet. Hat er recht?

Überfordert nein, aber wir sind als Gesellschaft erschöpft nach zwei Jahren Pandemie, dann der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise und die Inflation. Da spüre ich, dass Verunsicherung da ist und Menschen Orientierung brauchen.

Aber das letzte Jahr hat auch gezeigt, was wir gemeinsam leisten können: Wir haben es trotz schlimmer Prognosen geschafft, dass die Industriebetriebe nicht zumachen mussten, dass nicht massenhaft Arbeitsplätze verloren gegangen sind, dass niemand frieren musste. Dieses Land und die Menschen hier haben wahnsinnig viel Kraft.

Aber was ist mit den Herausforderungen, die noch vor uns liegen: Digitale Transformation, Flüchtlingskrise, Probleme im Bildungssystem, Gesundheitssystem – wie soll das alles gehen?

Die Umbrüche, die vor uns liegen, sind enorm und die nächsten Jahre werden uns deshalb auch weiter viel abverlangen. Aber was ist die Alternative? Wir können den Wandel nicht aufhalten, aber wir können dafür sorgen, dass sich die Menschen im Wandel sicher fühlen. Es geht darum, wie wir die Veränderungen gestalten. Und wir in Deutschland haben oft genug gezeigt, dass wir in Krisensituationen gut sind.

Müsste Zuzug begrenzt sein?

Deutschland ist ein humanitäres Land, wir bieten denjenigen Schutz, die vor Krieg, Verfolgung oder Klimakatastrophen fliehen. Und gleichzeitig wollen wir Deutschland zu einem modernen Einwanderungsland für ausgebildete Fachkräfte machen, die wir dringend brauchen. Damit das gelingt und wir die Akzeptanz der Bevölkerung für diesen Weg haben, müssen wir auch schneller werden bei der europaweiten Verteilung von Geflüchteten und der Rückführung von Menschen, die nach unseren Gesetzen hier nicht bleiben können.

Aber ist es nicht aussichtslos, Migration steuern zu wollen? Nichts deutet im Moment darauf hin, dass es in einem gemeinsamen europäischen Handeln mündet.

Wenn ich die Grundhaltung hätte, es funktioniert eh nicht, könnte ich keine Politik machen. Innenministerin Nancy Faeser sammelt gerade europäische Bündnispartner für eine gemeinsame europäische Migrationspolitik ein. Dazu gehört auch die Frage, wie Asylverfahren an den EU-Außengrenzen besser gestaltet werden können. Ich bin zudem guter Dinge, dass wir auch durch Migrationsabkommen Fortschritte erzielen.

Gerade hat Deutschland eines mit Indien abgeschlossen, bald soll ein Abkommen mit Marokko folgen. Natürlich ist das ein steiniger Weg – aber ich sehe keine Alternative. Unser humanitäres Gesicht aufzugeben, kann genau so wenig eine Option sein wie Migration einfach gar nicht mehr zu steuern.

Heizt selbst noch mit Gas: SPD-Chef Lars Klingbeil.
Heizt selbst noch mit Gas: SPD-Chef Lars Klingbeil. | Bild: Hanser, Oliver

Kommen wir mit einer einfachen Frage zu einem ähnlich komplizierten Thema: Wie heizen Sie eigentlich?

Mit Gas.

Ohje.

Ja. Zusätzlich habe ich Solarmodule für Warmwasser, aber die ganze Siedlung in meinem Wohnort hat Gas. Ich merke auch im Bürgerbüro: Viele sind verunsichert, wissen nicht, wie sie jetzt umstellen sollen. Diese Frage ist sehr präsent.

Will Robert Habeck da zu viel von den Bürgern?

Ich mache das nicht an einer Person fest. Aber die Kommunikation hat sicher nicht dazu beigetragen, den Bürgerinnen und Bürgern Unsicherheit zu nehmen. Ich halte es für richtig, dass wir ambitioniert vorangehen beim Klimaschutz. Die Wärmewende ist ein wichtiger Schlüssel, damit wir bis 2045 klimaneutral sind. Aber das Gesetz muss jetzt noch deutlich nachgebessert werden.

Das könnte Sie auch interessieren

Wo setzen Sie da an?

Wir wollen die Förderung nach Einkommen staffeln. Dann brauchen wir eine Abkehr von der starren Altersgrenze. Es ist nicht erklärbar, warum eine Hausbesitzerin mit 79 Jahren anders behandelt wird als eine mit 80 Jahren. Wir als SPD können uns vorstellen, dass man das ans Renteneintrittsalter koppelt. Und ein weiterer Punkt: Bei mir in der Region gibt es viele Pelletheizungen. Die gehören für mich mit in die Technologieoffenheit des Gesetzes rein. Zudem geht es um Mieterschutz, die Kosten sollen nicht komplett auf sie umgelegt werden dürfen.

Mit all den Nachbesserungen vermitteln wir ganz klar: Niemand wird alleine gelassen. Wir gehen den richtigen Weg für mehr Klimaschutz gemeinsam, auch wenn es jetzt konkret wird. Das unterscheidet uns im Übrigen von CDU und CSU, die einfach nur dagegen ist. Wenn Friedrich Merz sagt, wir hätten ja noch Zeit mit der Wärmewende, dann ist das nicht fair gegenüber den Menschen, weil es einfach nicht stimmt.

Wann soll denn für Heizungsbesitzer mehr Klarheit herrschen?

Wir haben noch zehn Wochen Zeit bis zur Sommerpause des Parlaments – das wäre schon wichtig, dass wir bis dahin das Gesetz verabschiedet haben. Es geht um Planungssicherheit, die Menschen müssen sich darauf vorbereiten können, wenn das Gesetz ab 1. Januar gelten soll.

Ist der 1. Januar noch realistisch?

Ja. Wenn wir unseren Job im Parlament vernünftig machen und das bis Sommer verabschieden, passt der 1. Januar. Das heißt aber ja nicht, dass am 2. Januar die Regierung vor der Tür steht und die Gasheizungen rausreißt. Es wird keine Verbote geben und für den Umbau ausreichende Übergangsfristen.

Das könnte Sie auch interessieren

Wechseln wir vom Gas-Herd zum Gas-Gerd: Gerhard Schröder darf in Ihrer Partei bleiben, hat die SPD-Schiedskommission in Hannover entschieden. Wäre es Ihnen lieber, er könnte ausgeschlossen werden?

Ich akzeptiere diese juristische Entscheidung der Schiedskommissionen. Was für mich zählt: Wir haben uns als Parteispitze politisch klar von ihm distanziert. Die SPD-Führung steht geschlossen an der Seite der Ukraine. Es ist tragisch, dass sich Gerhard Schröder entschieden hat, auf der anderen Seite der Geschichte zu stehen.

Sie waren nah an Schröder dran, arbeiteten in seinem Wahlkreisbüro. Wann hatten Sie denn zuletzt Kontakt mit ihm, sprechen Sie noch mit ihm?

Nein. Wir hatten das letzte Mal vor Kriegsbeginn Kontakt. Dann gab es noch einen Brief, den wir amtierende und ehemalige SPD-Vorsitzende ihm geschrieben haben (im März 2022, darin forderten sie Schröder auf, sich gegen Putin zu stellen, Anm. d. Red.). Es gibt diesen persönlichen Kontakt nicht mehr. Jede Sozialdemokratin und jeder Sozialdemokrat, die oder der es ernst meint mit unserer Geschichte, hat sich an die Seite der Ukraine zu stellen, an die Seite des Landes, das brutal angegriffen wird. Das erwarte ich von allen Mitgliedern.

Die Bundesregierung hat die Militärhilfen für die Ukraine gerade noch einmal um 2,7 Milliarden Euro erhöht. Sollen so umso mehr ukrainische Erfolge im Sommer gegen Russland möglich werden?

Die Hilfen sind auf mehrere Jahre angelegt. Da geht es darum, Strukturen aufzubauen, zum Beispiel für die Panzer- und Munitionsproduktion von Rheinmetall in der Ukraine. Wir hoffen, dass eine erfolgreiche ukrainische Offensive den Druck auf Putin erhöht, seine Soldaten abzuziehen und offen gegenüber Verhandlungen zu sein. Ich habe großen Respekt vor der militärischen Leistung der Ukraine. Wir wissen, dass diese nur mit westlicher Hilfe dauerhaft möglich ist.

Kommt diese Offensive denn? Oder ist das eine Medienerfindung?

Die Ukrainer haben bisher an vielen Stellen bewiesen, dass man sie militärisch nicht unterschätzen sollte.

Beim SÜDKURIER-Redaktionsgespräch: SPD-Chef Lars Klingbeil (Zweiter von links) mit SÜDKURIER-Geschäftsführer Peter Selzer, Jennifer ...
Beim SÜDKURIER-Redaktionsgespräch: SPD-Chef Lars Klingbeil (Zweiter von links) mit SÜDKURIER-Geschäftsführer Peter Selzer, Jennifer Seidel, Elisa Glöckner, Angelika Wohlfrom, Chefredakteur Stefan Lutz, Dominik Dose und Walther Rosenberger (von links). | Bild: Hanser, Oliver

Sind Kampfflugzeuge dennoch die rote Linie, die Deutschland bei Waffenlieferungen nicht überschreiten kann?

Diese Kampfjet-Debatte ist kein Thema, weil wir die Flugzeuge gar nicht haben, die der Ukraine jetzt nutzen würden. Wir konzentrieren uns auf Panzer, Munition, Raketenabwehr, da haben wir die Qualitäten, die gerade der Ukraine helfen.

Klingt nicht nach einer roten Linie für alle Zeiten?

Wie gerade beschrieben: Unsere Unterstützung liegt gerade wo anders.

Würden Sie sich Olaf Scholz in dieser Debatte und in anderen manchmal ein bisschen emotionaler wünschen?

Ich habe eine Entscheidung für mich getroffen: Dass ich Olaf Scholz nie verändern möchte. Politiker scheitern immer dann, wenn sie gedrängt werden, eine Person zu sein, die sie nicht sind. Nehmen wir das Beispiel Ukraine: Olaf Scholz hat immer abgewogen, bevor er Entscheidungen getroffen hat und dann hat er alle Zusagen auch eingehalten.

Das Ergebnis dieses Handelns ist die enge Verbindung zwischen Deutschland und der Ukraine. Weil Selenskyj weiß: Andere Staatschefs halten groß inszenierte Reden – aber dann kommt nichts an. Da ist doch mehr Verlass auf einen, der zweimal nachdenkt, dann aber auch liefert. Wenn in Deutschland am Freitag entschieden wird, dass die Leo-Panzer geliefert werden, dann beginnt eben am Montag die Ausbildung. Die Ukraine weiß, dass sie auf uns zählen kann.

Ist eigentlich SPD-Chef schon das Schönste, was einem passieren kann? Oder was wollen Sie danach noch werden?

Ich bin der jüngste SPD-Chef in der 160-jährigen Geschichte unserer Partei. Das ist schon ein großes Privileg. Ich wundere mich darüber, dass andere Ämter in der Bundespolitik öffentlich immer als so viel wichtiger beschrieben werden. Das sehe ich gar nicht so. Ich habe da Spaß dran und bin sehr gerne Parteivorsitzender der ältesten Partei Deutschlands und Europas.