Misst man den eigenen Erfolg an der Reaktion der Gegner, dann hat Joe Biden alles richtig gemacht. Kaum war öffentlich geworden, dass er statt seiner selbst Vizepräsidentin Kamala Harris als Kandidatin für die US-Präsidentschaftswahl vorschlägt, schossen Donald Trump und seine Getreuen aus allen Rohren. Ein Staatsstreich sei es, was da auf offener Bühne geschehe, Harris eine politische Versagerin.

Die 59-Jährige, so scheint es, macht den Republikanern gehörig Angst. Sollten sich die Demokraten wirklich für Harris entscheiden, könnte es auf einmal Trump selbst sein, der wie ein alter Mann wirkt. Denn über eines sollten die vergangenen Wochen nicht hinwegtäuschen: Auch die Umfrageergebnisse von Trump sind keineswegs überragend. Trotz der Aussetzer von Biden gelang es ihm nicht, sich einen echten Vorsprung zu erarbeiten. Im Gegenteil: Schon die Umfragen zeigten, dass die Amerikaner in dieser Wahl eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera sahen.

Demokraten sind kein Abnickverein

Ob die Demokraten tatsächlich mit Harris ins Rennen ums Weiße Haus gehen, ist zum jetzigen Zeitpunkt alles andere als sicher. In der DNA der Partei liegt auch die Lust am Streit, an der Auseinandersetzung. Und das ist auch gut so. Die Entwicklung der Republikaner hin zum Abnickverein für den Trump-Clan sollte ihnen ein warnendes Beispiel sein. Das Ringen um die beste Lösung ist Kern der Demokratie. Doch manchmal braucht es in der Politik auch Pragmatismus.

Was die Demokraten disziplinieren könnte, ist der Faktor Zeit. Gut 100 Tage dauert es noch, bis der nächste US-Präsident bestimmt wird. Lange Debatten würden nicht nur potenzielle Wähler vergraulen, sie würden auch den ohnehin schon schwierigen Wahlkampf unnötig weiter verkürzen. Egal ob sie sich auf Harris oder einen anderen Kandidaten einigen: Geschlossenheit wird das Gebot der Stunde sein. Sonst können die Demokraten den Schlüssel für das Haus in der 1600 Pennsylvania Avenue gleich vorab an die Republikaner überreichen.

Keine Frage: Auch mit Kamala Harris als Kandidatin würde die demokratische Partei ein enormes Risiko eingehen. Anders als Biden wird es für sie schwer, die Herzen des konservativen Amerikas zu erreichen. Zu links, zu elitär, zu „woke“ ist sie vielen. Auch ihr Ruf als die wandelnde Enttäuschung hat sich in den vergangenen Jahren verfestigt. Auch, weil die eigene Partei gar kein Interesse daran hatte, eine Konkurrenz zu Biden aufzubauen.

Schon Obama wurde mehr an Ideen gemessen

Doch ein K.-o.-Kriterium muss das nicht sein. Es wird Aufgabe der Strategen sein, eine Erzählung in den Mittelpunkt zu stellen, die sie maximal von Trump abhebt: Eine Präsidentin Harris hätte ein historisches Momentum. Sie wäre die erste schwarze Frau, die das mächtigste Amt der Welt bekleidet. Das kann Wählergruppen und vor allem Wählerinnengruppen mobilisieren, die sich bisher abgewandt hatten von der Politik.

Schon Barack Obama wurde mehr an den Ideen gemessen, die andere in ihn hineinprojiziert hatten als an seiner tatsächlichen Politik. Der Gedanke, Teil einer größeren Bewegung zu sein, die für das vermeintlich bessere steht, kann Menschen beflügeln. Die Kraft, die davon ausgehen kann, sollte niemand unterschätzen. Allerdings auch nicht überschätzen. Allein mit Symbolik gewinnt man selbst in politisch aufgeladenen Zeiten keine Wahlen.

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Harris wird beweisen müssen, dass sie nicht nur die Kandidatin von Bidens Gnaden ist, die Kandidatin, die ranmusste, weil die Partei sonst nackt dagestanden hätte, keine schwarze Quotenfrau. Schon einmal ist sie gescheitert mit ihrer Bewerbung, auch dieses Mal fehlt ihr das traditionelle Stahlbad der Vorwahlen, das auch dazu dient, die Präsidententauglichkeit des jeweiligen Bewerbers auf die Probe zu stellen. Ihre größte Herausforderung wird es sein, sich als einende Kandidatin für alle Amerikaner zu präsentieren – es gab schon einmal einfachere Aufgaben. Ihr Konkurrent Trump, so viel ist klar, wird sie nicht schonen.