Es liegen noch Reste von Schnee am Straßenrand, die Sonne scheint auf den kleinen Ort Römlinsdorf am Rande von Alpirsbach. Auch wenn der Ort noch zum Schwarzwald gehört, gibt es hier eher Felder, Wiesen und nur kleine Flächen Wald. Alles ist hell und offen. Weniger als 400 Menschen leben in diesem Ort, der einst zum Kloster Alpirsbach gehörte. Dieses liegt westlich eingebettet in dichtem Schwarzwald und ist auch bekannt durch die Brauerei, deren Duft dort durch die Straßen wabert.

Auf den ersten Blick scheint Corona weit weg. Doch das Virus macht sich auch hier breit, die Menschen spüren es in ihrem Leben. Wen es gesundheitlich nicht berührt, der ist oft in anderer Form betroffen. Die Auswirkungen der Pandemie dringen bis in die kleinsten Adern der Gesellschaft vor.
Bis zu Jo Reinke. Der 63-Jährige sitzt in einem kleinen Anbau von seinem Wohnhaus und zieht feines Ziegenhaar in Holzklötze, die mal aussehen wie ein durchlöcherter Pilzkopf und mal ein Brett mit Löchern und abgerundeten Ecken sind. Aus Ziegenhaar, Holzklötzen und einem Stückchen Draht fertigt er in Handarbeit Bürsten und Besen, die so weich sind, dass man sie streicheln möchte. Klassische Staubwedel und Stubenbesen aus gespaltenem Rosshaar entstehen hier. Für den Bürstenmacher hat sich das Leben in den vergangenen zehn Monaten sehr verändert.
Den Stand haben sie in diesem Jahr nicht aufgebaut
In einem normalen Jahr verkauft der Jo Reinke seine Waren auf rund 30 Märkten und zwei großen Weihnachtsmärkten in Konstanz und Berlin. Aber was ist momentan schon normal? In diesem verrückten Corona-Jahr haben er und seine Frau Annette nicht ein Mal ihren Stand aufbauen können. So warten die vielen Bürsten im Lager auf die Zeit nach der Pandemie. Wie die Reinkes, denen etwa 85 Prozent ihres Jahresumsatzes fehlen.

Neben den finanziellen Einbußen ging aber noch etwas anderes verloren: Der soziale Austausch mit Kunden und anderen Standbetreibern, etwas für das die beiden ihr Geschäft lieben und von dem sie auch leben. „Die ganzen Kontakte vermissen wir sehr. Das ist ein großer Verlust für uns“, sagt Annette Reinke. Sie wirkt traurig.
Das sei ein bisschen wie Familie, beschreibt sie die engen Kontakte zu Stammkunden und anderen Händlern, die seit Jahren mit den Reinkes auf den selben Märkten verkaufen. Wer die beiden in ihrer Küche beim Gespräch erlebt, kann sie sich gut im Umgang mit ihren Kunden vorstellen. Eine offene, herzliche, direkte Art, die auch der Mund-und-Nasen-Schutz nicht verbergen kann.
Große Verlust durch abgesagte Weihnachtsmärkte
Eigentlich würde der Bürstenmacher jetzt auf dem Weihnachtsmarkt in Konstanz stehen, direkt auf der Marktstätte, der Haupteinkaufsstraße. In einem Verkaufsstand aus Holz, der an heimelige Berghütten erinnert, zwischen 500 verschiedenen Artikeln. Aber jetzt: „Alles abgesagt“, erzählt Joachim „Jo“ Reinke und hebt resigniert die Schultern.
Der Vormittag sei die umsatzstärkste Zeit. Dann kämen die Stammkunden und Hausfrauen, um sich für ein neues Jahr mit den Bürsten aus dem Schwarzwald einzudecken. Seit 25 Jahren gehört der Bürstenstand zum Konstanzer Weihnachtsmarkt. Dementsprechend ist auch die Stammkundschaft gewachsen.

„Ab August beginnen wir mit der Produktion für die Weihnachtsmärkte“, sagt Jo Reinke. Denn auch der Markt auf dem Gendarmenmarkt hat mit seiner Lage in Berlin Mitte und der Dauer von fünf Wochen eine hohe Kundenfrequenz. Vier Wochen vorher geht es dann an die direkten Vorbereitungen mit Kisten packen, Waren verschicken und Hütten aufbauen. „Wir machen im Weihnachtsgeschäft 50 Prozent unseres Jahresumsatzes.“ Diese Einnahmen sichern die Zeit ohne Märkte bis in den April.
Die Bürsten werden gerade nur über den Onlineshop verkauft
Momentan bleibt als einziger Absatzweg noch der selbst aufgebaute Onlineshop. Aber die damit erwirtschafteten 15 Prozent vom eigentlichen Jahresumsatz sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. „Wir haben Existenzängste“, gibt Annette Reinke offen zu. „Dieses Jahr können wir komplett knicken und für das nächste sieht es auch nicht besser aus“, fürchtet sie. Niemand weiß, ab wann Märkte und Großveranstaltungen wieder möglich sein werden.

Die Bürstenmacherei ist ein Familienbetrieb. Jo Reinke hat seine Frau und seine Tochter Jana als Bürstenmacherinnen in seinem Betrieb mit angestellt. Als die Pandemie im im März begann, beantragten sie Kurzarbeitergeld, Soforthilfe und später die Überbrückungshilfen.
Der Geldmangel hat das Leben verändert. „Wir kaufen sparsamer ein und haben das Auto abgemeldet“, zählt Jo Reinke auf. Auch die Beiträge für die Krankenversicherung hätten sie reduziert, die Rentenversicherung eingestellt. Glücklicherweise habe es keine Einkommenssteuervorauszahlung gegeben. „Das hätte uns das Genick gebrochen.“

Handwerk selbst erlernt
Seit 34 Jahren sind die beiden im Geschäft. Das Handwerk haben sie sich mit Unterstützung von Freunden selbst beigebracht. „Zu Beginn haben wir mit Naturtextilien gehandelt und dann das Sortiment mit ein paar Bürsten ergänzt“, schildert Jo Reinke den Anfang der Manufaktur.
Dann aber seien aber in den 90er-Jahren die Umsätze im Bereich Naturtextil weggebrochen, was auch größere Händler in der Branche traf. In der Not setzte die Familie auf das Bürstenmacherhandwerk und eignete sich das Wissen rund um Naturborsten und Bürstenformen an.
Mit Erfolg. „Wir haben immer gutes Geld verdient.“ Etwa 20 Prozent des Sortiments wird noch mit der Hand gemacht, hier in Römlinsdorf. Die anderen Bürsten, wie etwa die mit den Schweineborsten, stammen von Partnerfirmen in Deutschland, meist auch Familienbetriebe. „Wir legen Wert auf vernünftige Sachen“, bekräftigt der Bürstenmacher.

Staubwedel aus feinem Ziegenhaar
Auf der Werkbank liegt feines Ziegenhaar in unterschiedlichen Farben. Optimal zum Staubwischen. Jo Reinke setzt sich für die Arbeit auf einen schlichten Holzstuhl. Mit der Bündelabteilmaschine trennt er die passende Menge an Ziegenhaar ab.
Dann schieben die geübten Finger eine Drahtschlaufe von unten durch eines der Löcher in dem Holzrohling, ziehen das Haarbüschel bis zur Hälfte durch die Schlinge und schließlich das mit Draht festgezurrte Haar wieder nach unten durch das Loch. Der erste Büschel ist fertig und ragt wie eine Palme aus dem hölzernen Pilzkopf.
Büschel um Büschel zieht Jo Reinke durch die Löcher. So entstehen Handfeger, Besen oder Staubwedel. Mal einfarbig, mal gemustert. Mit weichem Ziegenhaar für den feinen Staub oder harten Pflanzenfasern zum Schrubben oder Rosshaar für die Spinnweben in der Ecke. Spinnfeger in traditioneller Form, mit der unsere Großmütter schon die Ecken an der Decke geputzt haben.
Reinke freut sich über die in normalen Jahren steigenden Nachfrage für seine Naturprodukte, auch im Onlineshop. „Wir haben handgemachte hochwertige Produkte. Damit kaufen unsere Kunden kein billiges Wegwerfzeug.“ Den Shop hat Reinke mit Blick auf die Zukunft eingerichtet. „Wir müssen uns ja auch eine Grundlage fürs Alter schaffen“, sagt er. Das Verkaufen auf den Märkten, das Aufbauen der Hütten sei schwere körperliche Arbeit.
Trotzdem, die Reinkes würden jetzt lieber auf dem Weihnachtsmarkt stehen und mit den Kunden ratschen. „Wir konnten uns das erst gar nicht vorstellen – ein Jahr ohne Märkte“, erinnert sich Annette Reinke. Die 57-Jährige erzählt, dass sie im Frühjahr die Lager für die Saison füllen, alles war vorbereitet und dann kam Corona und das Nichts-Tun-Können. „Ich kenne das nicht, ein Leben ohne Gas geben.“

Wenn die beiden zurückblicken sagen sie: „Wir hatten einen schönen Sommer.“ Trotz der Geldsorgen. Sie haben viele Radtouren unternommen, eigenes Gemüse angepflanzt und Schränke entrümpelt. Dinge für die sonst keine Zeit bleiben. Und die Zeit mit der Tochter und der Enkelin, die beide mit im Haus wohnen, genossen. „Alles hat immer zwei Seiten“, versucht Jo Reinke auch das Gute in der Situation zu sehen.

Weihnachten ist nicht die ganze Familie zusammen
Weihnachten wird bei den Reinkes dieses Jahr ganz anders aussehen. Es wird kein großes Familienfest mit zwölf Personen geben, wie sonst immer. „Dabei wäre ja in diesem Jahr endlich mal Zeit alles vorzubereiten“, sagt Annette Reinke. Denn Verkaufen auf dem Konstanzer Weihnachtsmarkt bedeutet, dass das Geschäft bis einen Tag vor Heiligabend läuft. Dann muss die Hütte noch abgebaut werden. Und nach den Feiertagen geht es sonst am 27. Dezember gleich weiter nach Berlin, um dort den Stand bis Silvester zu betreuen. Also wenig Zeit für große Weihnachtsvorbereitungen.
Jetzt ist die Zeit zwar da, aber die Familie zu sehen, wird durch Corona zum Risiko. Das erhöht sich für Jo und Annette Reinke zusätzlich, da die andere Tochter, Schwiegersohn, Schwester und Bruder im Krankenhaus arbeiten, teilweise in direktem Kontakt mit Covid-19-Erkrankten. Außerdem ist es verboten in größeren Gruppen zu feiern. „Wir werden jetzt auf drei Tage verteilt im jeweils kleinen Kreis feiern“, sagt Annette Reinke. Das soll das Risiko senken.